Mitten in der Nacht
sich an ihn zu halten schien, wenigstens so lange sie hier war, unterdrückte er den Wunsch, sie wieder loszuwerden. Als sie mit schnurrenden Lauten in die Bibliothek abbog, nahm er stattdessen die Gelegenheit wahr, sie zu studieren.
Ähnlichkeit mit Lena entdeckte er keine. Womöglich gab es ein paar körperliche Übereinstimmungen. Aber während Lena diesen kompakten, gut proportionierten Körper hatte, hatte der von Lilibeth durch die Zeit und den Missbrauch so sehr abgebaut, dass er fast ausgemergelt wirkte.
Da sie ihn in ihren winzigen roten Shorts und einem knallengen Pullunder zur Schau stellte, wirkte sie billig und Mitleid erregend – eine abgegriffene Babypuppe, die man für eine letzte Nacht im Karneval noch einmal aufgeputzt hatte. Diese Frau, die Zustimmung und Aufmerksamkeit suchte, indem sie eine Sexualität zur Schau stellte, die sie bereits verloren hatte, erregte sein Mitleid.
Mit Make-up war sie großzügig gewesen, und die Hitze war nicht gnädig damit umgegangen. Unter all der geborgten Farbe wirkte ihr Gesicht teigig und falsch. Durch ihr krauses Haar zogen sich graue Strähnen.
Als sie die Küche erreicht hatten, überwog sein Mitleid seine Verärgerung.
»Setzen Sie sich«, sagte er. »Ich hole Ihnen was zu trinken.«
Und sie missdeutete die Freundlichkeit seiner Stimme als Anziehung.
»Eine solche Küche...« Sie setzte sich auf einen Stuhl. Hier drinnen war es kühl, und sie legte den Kopf in den Nacken, um die Luft an ihre Kehle zu lassen – und ihn zu beobachten. »Jetzt erzählen Sie mir bloß nicht, Sie kochen auch noch. Denn wenn das der Fall wäre, mein Süßer, dann müsste ich Lena ausstechen und Sie stattdessen selbst heiraten.«
»Tut mir Leid.« Da sie Lena erwähnt hatte, verhärtete er sich sofort. Doch er hatte ihr den Rücken zugekehrt, und sie konnte sein Gesicht nicht sehen. »Ich koche nicht.«
»Na ja, ein paar Zugeständnisse kann ein Mädchen machen.« Sie leckte sich mit der Zunge ihre Lippen. Er hatte nicht nur tiefe Taschen, sondern war auch gut und kräftig gebaut. Und langsam bekam sie wieder Lust auf einen Mann.
»Hätten Sie nicht vielleicht auch was Kräftigeres als Tee, mein Lieber?«
»Hätten Sie lieber ein Bier?«
Noch lieber wäre ihr ein Glas Whiskey gewesen, aber sie nickte. »Das wäre genau richtig. Trinken Sie eins mit?«
»Ich bleibe lieber beim Tee. Ich habe heute noch zu tun.«
»Ist doch viel zu heiß zum Arbeiten.« Sie rekelte sich und sah ihn unter halb geschlossenen Wimpern an. »An solchen Tagen möchte man sich am liebsten in einer kühlen Wanne einweichen und dann in einem dunklen Raum unter einem Ventilator ausruhen, der einem Luft über die Haut fächelt.«
Sie nahm das Glas Bier, das er ihr eingeschenkt hatte, und trank daraus. »Was machen Sie gegen die Hitze, mein Lieber?«
»Ich schütte mir kaltes Wasser über den Kopf. Wie geht es Miss Odette?«
Lilibeth verzog die Lippen zum Schmollmund. »Oh, der geht's gut. Morgens ist von ihrer Backerei ständig eine Höllenhitze im Haus. Sie muss sparen. Ich helfe ihr so gut ich kann, aber es ist alles knapp. Declan...«
Sie strich mit ihrem Finger an dem beschlagenen Glas entlang und nahm einen großen Schluck. »Ich wollte mich für die Szene drüben im Haus vor ein paar Tagen entschuldigen. Wissen Sie, Lena und ich, wir geraten die halbe Zeit aneinander. Ich kann wohl nicht leugnen, dass ich ziemlich viel falsch gemacht habe, als sie noch klein war. Aber ich versuche, alles wieder gut zu machen.«
Sie riss die Augen auf, bis sie brannten und hilfsbereit zu tränen anfingen. »Ich habe mich geändert. Ich habe einen Punkt in meinem Leben erreicht, an dem mir klar wurde, was wichtig ist. Und das ist die Familie. Sie wissen, wovon ich rede. Sie haben auch Familie.«
»Ja, ich habe Familie.«
»Und jetzt sind Sie hier unten und sie fehlt Ihnen und Sie fehlen ihr. Egal, welche Probleme es auch zwischen Ihnen geben mag, Sie gehen darüber hinweg und unterstützen einander. Was auch passieren mag, oder?«
»Ja.«
Geziert tupfte sie ihre Tränen ab. »Lena muss das begreifen, mehr will ich nicht. Noch hat sie kein Vertrauen in mich, und ich kann ihr das auch nicht verargen. Aber könnten Sie sie dazu bringen, mir noch eine Chance zu geben.«
Sie schob ihre Hand über den Tisch und strich damit über seinen Handrücken. »Ich wüsste es sehr zu schätzen, wenn Sie das täten. Ich fühle mich so allein. Eine Frau in meiner Lage braucht einen Freund. Einen starken Mann, auf den
Weitere Kostenlose Bücher