Mitternacht
Übelkeit, keine Gelenk- oder Muskelschmerzen, überhaupt keine Schmerzen. Er litt lediglich an einem umfassenden Unwohlsein und war so lethargisch, daß er nicht einmal einen Comic halten wollte; selbst das Fernsehen war zuviel Anstrengung. Er hatte keinen Appetit. Er schlief vierzehn Stunden täglich und war die restliche Zeit wie benommen. »Vielleicht ein schwacher Hitzschlag«, sagte der Arzt, »wenn er in ein paar Tagen nicht darüber hinweg ist, brin gen wir ihn zur Untersuchung ins Krankenhaus.«
Tagsüber, wenn der Richter im Gerichtssaal war oder sich mit seinen Anlagenberatern traf, und wenn Tommys Mutter im Country Club oder bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung weilte, schlich Runningdeer ab und zu ins Haus und setzte sich zehn Minuten zu dem Jungen ans Bett. Er erzählte Tommy Geschichten mit seiner leisen und seltsam rhythmischen Stimme.
Miß Karval, die Haushälterin und zeitweise Amme, wußte genau, daß weder der Richter noch Mrs. Shaddack die Krankenbesuch des Indianers oder seine sonstigen Aktivitäten mit Tommy gutheißen würden. Aber Miß Karval hatte ein gütiges Herz und mißbilligte die mangelnde Aufmerksamkeit, die die Shaddacks ihrem Sprößling schenkten. Und sie mochte den Indianer. Sie sah nicht hin, weil sie nichts Schlechtes darin sah - wenn Tommy versprach, seinen Eltern nicht zu verraten, wieviel Zeit er mit Runningdeer verbrachte.
Als sie gerade beschlossen hatten, den Jungen zur Untersuchung ins Krankenhaus zu bringen, erholte er sich wieder, und die Diagnose des Arztes - Hitzschlag - wurde akzeptiert. Von diesem Tage an verbrachte Tommy seine Zeit fast täglich mit Runningdeer, wenn seine Eltern aus dem Haus gegangen waren, bis einer von ihnen zurückkehrte. Als er zur Schule ging, kam er nach dem Unterricht sofort nach Hause; er war nie interessiert, wenn andere Kinder ihn zum Spielen zu sich einluden, denn er brannte darauf, ein paar Stunden mit Runningdeer zu verbringen, bevor sein Vater oder seine Mutter am Spätnachmittag wiederkamen.
Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr machte der Indianer Tommy deutlich auf Zeichen aufmerksam, die sein großes - wenn auch bislang noch unbekanntes - Schicksal andeuteten. Ein Büschel vierblättriger Kleeblätter unter dem Schlafzimmerfenster des Jungen. Eine tote Rate, die im Swimming-pool trieb. Ein paar zirpende Grillen in der Schreibtischschublade des Jungen, als er eines Nachmittags von der Schule nach Hause kam. Gelegentlich tauchten Münzen auf, wo er keine hingelegt hatte - ein Penny in jedem seiner Schuhe im Schrank; einen Monat später ein glänzender Silberdollar in einem Apfel, den Runningdeer für ihn schälte - und der Indianer betrachtete alle Münzen voller Ehrfurcht und erklärte, daß sie die mächtigsten Zeichen von allen waren.
»Geheimnis«, flüsterte Runningdeer geheimnisvoll am Tag nach Tommys neuntem Geburtstag, als der Junge berichtete, daß er um Mitternacht leise Glocken unter seinem Fenster läuten gehört hatte.
Als er aufstand, hatte er nur eine Kerze auf dem Rasen brennen gesehen. Er achtete sorgfältig darauf, seine Eltern nicht zu wecken, und schlich hinaus, um die Kerze genauer zu betrachten, aber sie war nicht mehr da.
»Behalte diese Zeichen immer für dich, sonst werden sie bemerken, daß du ein Kind des Schicksals bist und eines Tages unermeßliche Macht über sie haben wirst, dann werden sie dich jetzt töten, solange du noch ein Junge bist, und schwach.«
»Wer sind >sie« fragte Tommy.
»Sie, eben sie, alle«, antwortete der Indianer geheimnis voll.
»Aber wer?«
»Zum Beispiel dein Vater.«
»Der nicht.«
»Der ganz besonders«, flüsterte Runningdeer. »Er ist ein mächtiger Mann. Es gefällt ihm, Macht über andere zu haben, einzuschüchtern, zu drohen, um seinen Willen durchzusetzen. Du hast gesehen, wie sich die Menschen vor ihm verbeugen und kriechen.«
Tommy hatte tatsächlich bemerkt, wie respektvoll alle mit seinem Vater sprachen - besonders seine zahlreichen Freunde in der Politik -, und ein paarmal hatte er auch die beunruhigenden und wahrscheinlich aufrichtigeren Blicke gesehen, die sie hinter dem Rücken des Richters miteinander wechselten. Von Angesicht zu Angesicht schienen sie ihn zu bewundern, sogar zu verehren, aber wenn er nicht hinsah, schienen sie ihn nicht nur zu fürchten, sondern sogar zu verabscheuen.
»Er ist nur zufrieden, wenn er alle Macht besitzt, und die wird er nicht so ohne weiteres aus der Hand geben, für keinen, nicht einmal für
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