Mitternacht
spielte, bis er schließlich ganz damit aufhörte und Runningdeer wie hypnotisiert beobachtete.
Er war nicht sicher, wie lange er an jenem heißen Wüstentag gebannt im Schatten der Veranda lag, aber nach einer Weile stellte er überrascht fest, daß Runningdeer ihn rief.
»Kleiner Häuptling, komm her und sieh dir das an.«
Er war so benommen, daß er zuerst gar nicht reagieren konnte. Seine Arme und Beine funktionierten nicht. Er schien zu Stein geworden zu sein.
»Komm schon, komm schon, Kleiner Häuptling. Das mußt du dir ansehen.«
Schließlich sprang Tommy auf und lief zum Rasen, zu den Hecken um den Swimming-pool, wo Runningdeer geschnit ten hatte.
»Dies ist etwas sehr Seltenes«, sagte Runningdeer mit feierlicher Stimme und deutete auf eine grüne Schlange, die auf den von der Sonne gewärmten Fliesen um den Pool herum zu seinen Füßen lag.
Tommy wich ängstlich zurück.
Aber der Indianer packte ihn am Arm, hielt ihn fest und sagte: »Hab keine Angst. Es ist nur eine harmlose Gartenschlange. Sie wird dir nichts tun. Sie ist sogar als Zeichen für dich hergeschickt worden.«
Tommy sah das vierzig Zentimeter lange Reptil mit aufgerissenen Augen an; es hatte sich zu einem O zusammengerollt und den Schwanz im Mund, als würde es sich selbst verzehren. Die Schlange war reglos, ihre glasigen Augen blinzelten nicht. Tommy dachte, sie wäre tot, aber der Indianer versicherte ihm, daß sie lebte.
»Dies ist ein großes und mächtiges Zeichen, das alle India ner kennen«, sagte Runningdeer. Er kauerte sich vor der Schlange nieder und zog den Jungen mit herunter. »Es ist ein Zeichen«, flüsterte er, »ein übernatürliches Zeichen, das von den großen Geistern geschickt worden ist, und es gilt immer einem kleinen Jungen, daher muß es für dich sein. Ein mächtiges Zeichen.«
Tommy betrachtete die Schlange staunend und sagte: »Zeichen? Was meinst du damit? Das ist kein Zeichen. Es ist eine Schlange.«
»Ein Omen. Eine Offenbarung. Ein heiliges Zeichen«, sagte Runningdeer.
Während sie vor der Schlange kauerten, erklärte er Tommy die Sache mit einer durchdringenden Flüsterstimme, ohne dabei seinen Arm loszulassen. Die Sonne schien grell auf die betonierte Fläche. Hitzeflimmern stieg davon auf. Die Schlange lag so reglos, daß sie ein ungemein detailliertes Ju welenhalsband hätte sein können, und gar keine richtige Schlange - jede Schuppe ein Smaragd, zwei Rubine als Augen. Nach einer Weile verfiel Tommy wieder in die seltsame Trance, die er schon auf der Veranda erlebt hatte, und Runningdeers Stimme stahl sich schlangengleich in seinen Kopf, tief in den Schädel hinein, wo sie sich durch sein Gehirn wand und schnitt.
Noch seltsamer, es schien fast, als wäre die Stimme gar nicht mehr die von Runningdeer, sondern die der Schlange. Er betrachtete die Viper unablässig und vergaß beinahe, daß Runningdeer da war, denn was die Schlange ihm zu sagen hatte, war so faszinierend und aufregend, daß es Tommys Sinne herausforderte und seine volle Aufmerksamkeit verlangte, obwohl er nicht ganz begriff, was er hörte. Dies ist ein Zeichen des Schicksals, sagte die Schlange, ein Zeichen der Macht und des Schicksals, und du wirst ein sehr mächtiger Mann werden, weit mächtiger als dein Vater, ein Mann, vor dem sich andere verbeugen werden, ein Mann, dem man gehorchen wird, ein Mann, der die Zukunft niemals fürchten wird, denn er wird die Zukunft machen, und du wirst alles haben, alles auf der Welt. Aber das, sagte die Schlange, muß vorläufig unser Geheimnis bleiben. Niemand darf erfahren, daß ich dir diese Botschaft überbracht habe, daß dieses Zeichen gegeben wurde, denn wenn sie wissen, daß es dein Schicksal ist, Macht über sie zu haben, werden sie dich töten, dir in der Nacht die Kehle durchschneiden, das Herz herausreißen und dich in einem tiefen Graben zur Ruhe legen. Sie dürfen nicht wissen, daß du der kommende König bist, der Gott auf Erden, sonst werden sie dich zerschmettern bevor deine Kräfte ganz erblüht sind. Geheimnis. Dies ist unser Geheimnis. Ich bin die Schlange, die sich selbst verzehrt, und jetzt, da ich diese Botschaft überbracht habe, werde ich mich selbst auffressen und verschwinden, und niemand wird erfahren, daß ich hier gewesen bin. Vertraue dem Indianer, aber sonst niemandem.
Niemandem. Niemals.
Tommy verlor neben dem Pool das Bewußtsein und war zwei Tage krank. Der Arzt verblüfft. Der Junge hatte kein Fieber, keine erkennbare Schwellung der Lymphdrüsen, keine
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