Mitternacht
wieder gehen können. Sie haben die Frau meines Bruders mitgenommen und sie mißbraucht.«
Diese Enthüllung schockierte Tommy.
Schließlich sagte der Junge: »Ich hasse weiße Männer.« Runningdeer lachte.
»Wirklich«, sagte Tommy. »Was wurde aus den Jungs, die es getan haben? Sind sie jetzt im Gefängnis?«
»Kein Gefängnis.« Runningdeer lächelte den Jungen an.
Ein grimmiges, humorloses Lächeln. »Ihre Väter waren mächtige Männer. Geld. Einfluß. Daher sprach der Richter sie wegen >Mangel an Beweisen< frei.«
»Mein Vater hätte Richter sein sollen. Er hätte sie nicht davonkommenlassen. «
»Nicht?« sagte der Indianer.
»Niemals.«
»Bist du ganz sicher?«
Tommy sagte unbehaglich: »Nun... klar bin ich sicher.« Der Indianer schwieg.
»Ich hasse weiße Männer«, sagte Tommy, aber diesesmal mehr, um die Gunst des Indianers zu erringen, als aus innerster Überzeugung.
Runningdeer lachte wieder und tätschelte Tommys Hand. In eben diesem Sommer, gegen Ende August, kam Runningdeer an einem sengend heißen Tag zu Tommy und sagte mit geheimnisvoller, vielsagender Stimme: »Heute nacht ist Vollmond, Kleiner Häuptling. Geh in den Garten und betrachte ihn eine Weile. Ich glaube, heute wird das Zeichen schließlich kommen, das bedeutendste Zeichen von allen.« Als der Mond aufgegangen war, kurz nach Mitternacht, ging Tommy hinaus und stand am Rand des Pools, wo Runningdeer ihm vor sieben Jahren die Schlange gezeigt hatte, die sich selbst verzehrte. Er sah lange Zeit zur Mondscheibe hinauf, deren langgezogene Reflektion auf dem Wasser im Swimming-pool schimmerte. Es war ein aufgedunsener gelber Mond, der tief am Himmel hing und riesig groß war. Wenig später kam der Richter auf die Veranda und rief ihn, und Tommy sagte: »Hier.«
Der Richter kam zu ihm an den Pool. »Was machst du hier, Thomas?«
»Ich beobachte...«
»Was?«
In diesem Augenblick sah Tommy den Umriß des Falken vor dem Mond. Er hatte jahrelang gesagt bekommen, daß er ihn eines Tages sehen würde, war auf ihn und alles, was er bedeutete, vorbereitet worden, und plötzlich war er da, im Flug einen Augenblick vor der runden Mondlampe erstarrt. »Da!« sagte er und vergaß einen Moment, daß er nur dem Indianer vertrauen konnte.
»Was da?« fragte der Richter.
»Hast du es nicht gesehen?«
»Nur den Mond.«
»Du hast nicht hingeschaut, sonst hättest du ihn gesehen.« »Was gesehen?«
Daß sein Vater das Zeichen nicht gesehen hatte, war für Tommy ein weiterer Beweis, daß er etwas Besonderes war und das Zeichen nur ihm gegolten hatte - was ihn daran erinnerte, er konnte seinem eigenen Vater nicht trauen. Er sagte: »Äh... eine Sternschnuppe.«
»Du stehst hier draußen und hältst nach Sternschnuppen Ausschau?«
»Eigentlich sind sie Meteore«, sagte Tommy, der zu schnell plapperte. »Weißt du, heute nacht soll die Erde durch einen Meteorgürtel ziehen, daher kann man viele sehen.«
»Seit wann interessierst du dich für Astronomie?« »Interessiert mich nicht.« Tommy zuckte die Achseln. »Ich wollte nur wissen, wie so etwas aussieht. Ziemlich langweilig.« Er wandte sich vom Pool ab und ging zum Haus zurück, und der Richter folgte ihm nach einem Augenblick. Am nächsten Tag, Mittwoch, erzählte der Junge Runningdeer vom Mondfalken. »Aber er hat mir keine Botschaft gebracht. Ich weiß nicht, was die großen Geister von mir verlangen, damit ich mich als würdig erweise.«
Der Indianer lächelte und sah ihn eine unbehaglich lange Zeit schweigend an. Dann sagte er: »Kleiner Häuptling, darüber werden wir uns beim Essen unterhalten.«
Miß Karval hatte mittwochs frei, Runningdeer und Tommy waren ganz allein im Haus. Sie saßen beim Mittagessen nebeneinander auf der Veranda. Der Indianer schien nur Kaktusplätzchen mitgebracht zu haben, und Tommy hatte auch keinen Appetit auf etwas anderes.
Der Junge aß die Plätzchen schon lange nicht mehr wegen ihres Geschmacks, sondern wegen der Wirkung. Und die war im Laufe der Jahre immer stärker geworden.
Bald befand sich der Junge in dem erstrebenswerten traumähnlichen Zustand, in dem die Farben leuchtend und die Geräusche laut und die Gerüche durchdringend und alle Dinge tröstlich und ansprechend waren. Er und der Indianer unterhielten sich fast eine Stunde, und am Ende dieses Gesprächs begriff Tommy, daß die großen Geister von ihm erwarteten, er solle in vier Tagen seinen Vater umbringen, am Sonntagmorgen. »Das ist mein freier Tag«, sagte Runningdeer, »das
Weitere Kostenlose Bücher