Mitternacht
Gott, daß sie sich nicht zu heftig dagegen stemmte und von den Füßen gerissen wurde.
Sie schwankte. Das Seil zog heftig an ihrer Taille. Da kein schlaffes Seil durch ihre Hände gleiten konnte, gelang es ihr, den größten Teil der Belastung mit den Armen abzufangen.
Der Druck des Wassers gegen ihre Waden wurde heftiger.
Ihre Füße rutschten.
Seltsame Gedanken rasten ihr durch den Kopf wie ein Film, der in einem Videorekorder im schnellen Vorlauf abgespielt wurde; ein Dutzend Gedanken innerhalb von Sekunden, alle samt ungewollt, und manche überraschten sie. Sie dachte an das Leben, ans Überleben, daß sie nicht sterben wollte, und das war nicht so überraschend, aber dann dachte sie an Chris sie, daß sie das Mädchen nicht im Stich lassen wollte, und sie sah im Geiste ein deutliches Bild von sich und Chrissie zusammen vor sich, irgendwo in einem gemütlichen Haus, wo sie wie Mutter und Tochter lebten, und es überraschte sie, wie sehr sie das wollte, da es falsch war, denn Chrissies Eltern wa ren nicht tot, soweit man sagen konnte, und sie waren vielleicht nicht einmal hoffnungslos verwandelt, denn die Verwandlung - was immer das auch war - ließ sich vielleicht umkehren. Chrissies Familie wurde vielleicht wieder vereint. Dieses Bild konnte sich Tessa nicht vorstellen. Es schien nicht so wahrscheinlich, wie das, auf dem sie und Chrissie vereint waren. Aber es könnte sein. Dann dachte sie an Sam, daß sie vielleicht nie die Möglichkeit hatte, mit ihm zu schlafen, und das verblüffte sie, denn er war zwar attraktiv, aber bisher war ihr nicht klar gewesen, daß sie sich auf romantische Weise zu ihm hingezogen fühlte. Natürlich war seine Verbissenheit im Angesicht seelischer Verzweiflung bewundernswert, und seine völlig ernstgemeinten vier Gründe weiterzuleben machten ihn zu einer Art Herausforderung. Konnte sie ihm einen fünften geben? Oder Goldie Hawn als vierten ersetzen? Erst als sie vor dem Tod durch Ertrinken stand, war ihr bewußt geworden, welch großen Eindruck er in der kurzen Zeit auf sie gemacht hatte.
Ihre Füße rutschten weiter. Der Boden unter dem strömenden Wasser war viel glitschiger als in dem gemauerten Kanal, als würde Moos auf dem Beton wachsen. Tessa versuchte, die Fersen einzugraben.
Sam fluchte verhalten. Chrissie gab ein ersticktes Husten von sich.
Die Wassertiefe war in der Mitte des Tunnels auf etwa fünfzig bis sechzig Zentimeter gestiegen.
Einen Augenblick später zog das Seil heftig und wurde dann völlig schlaff.
Das Seil war gerissen. Sam und Chrissie waren in den Tunnel gespült worden.
Das Gurgeln-Plätschern -Blubbern des Wassers hallte von den Wänden, neue Echos übertönten die alten, und Tessas Herz schlug so laut, daß sie es hören konnte, aber sie hätte auch ihre Schreie hören sollen, während sie fortgerissen wurden.
Dann hustete Chrissie wieder. Nur ein paar Schritte entfernt.
Die Taschenlampe ging an. Sam deckte fast die ganze Linse mit der Hand ab.
Chrissie war an der Seite des Tunnels, wo der Sog nicht so stark war, sie hatte den Rücken und beide Hände gegen die Wand gepreßt.
Sam hatte die Beine weit gespreizt. Wasser strömte und wirbelte um seine Füße. Er hatte sich herumgedreht. Er sah jetzt bergauf.
Das Seil war doch nicht gerissen. Es war schlaff geworden, weil Sam und Tessa wieder Halt gefunden hatten.
»Alles in Ordnung?« flüsterte Sam dem Mädchen zu.
Sie nickte und hustete immer noch an dem schmutzigen Wasser, das sie geschluckt hatte. Sie runzelte angewidert die Nase, spie ein oder zweimal aus und sagte: »Bäh.«
Sam sah Tessa an und sagte: »Okay?«
Sie konnte nicht sprechen. In ihrem Hals hatte sich ein Kloß gebildet, der so hart wie Stein war. Sie schluckte ein paarmal und blinzelte. Eine verspätete Woge der Erleichterung lief durch sie hindurch und nahm ihr den fast unerträglichen Druck von der Brust, und schließlich sagte sie: »Okay. Ja. Okay.«
6
Sam war erleichtert, als sie das Ende des Tunnels ohne weitere Zwischenfälle erreicht hatten. Er blieb einen Augenblick direkt außerhalb des anderen Tunnelendes stehen und sah glücklich zum Himmel auf. Er konnte den Himmel wegen des dichten Nebels nicht sehen, aber das war nebensächlich; er war trotzdem erleichtert, daß er wieder im Freien war, wenn auch bis zu den Knien in schmutzigem Wasser.
Sie standen jetzt fast in einem Fluß. Entweder regnete es in den Bergen am Ostende der Stadt heftiger, oder ein Damm im System hatte nachgegeben. Der Wasserspiegel war
Weitere Kostenlose Bücher