Mitternacht
rasch bis über Sams Knie gestiegen und reichte Chrissie fast bis zur Taille, und die Flut strömte mit eindrucksvoller Ge schwindigkeit aus der Öffnung hinter ihnen. Es wurde mit jeder Sekunde schwieriger, in diesem Sturzbach nicht den Halt zu verlieren.
Er drehte sich um, griff nach dem Mädchen, zog sie dicht an sich und sagte: »Ich werde von jetzt an deine Hand halten.«
Sie nickte.
Die Nacht war schwarz wie ein Grab, und selbst Zentimeter vor ihrem Gesicht konnte er nur einen schattenhaften Eindruck von ihren Zügen bekommen. Als er zu Tessa aufsah, die wenige Schritte hinter dem Mädchen stand, sah er nur einen schwarzen Schatten, der jemand ganz anderer hätte sein können.
Er nahm das Mädchen fest an der Hand und sah wieder zu dem Weg, der vor ihnen lag.
Der Tunnel war über zwei Blocks hinweg verlaufen, bevor er seine Fluten in einen weiteren offenen Abwasserkanal ergoß, genau wie Harry sich aus seinen Kindertagen daran erinnerte, als er trotz des Verbots seiner Eltern in dem Abwas serkanal gespielt hatte. Gott sei Dank für ungehorsame Kinder.
Einen Block voraus mündete dieser neue Abschnitt des gemauerten Grabens wieder in einen Betontunnel. Diese Rohrleitung endete laut Harry an dem langen vertikalen Abfluß am Westende der Stadt. Auf den letzten zehn Metern des Haupttunnels befanden sich angeblich eine Reihe kräftiger senkrechter Eisenträger, die sich in Abständen von zwanzig Zentimetern vom Boden bis zur Decke erstreckten und ein Hindernis schufen, durch das nur Wasser und kleinere Ge genstände hindurch konnten. Es war völlig unmöglich, daß man die sechzig Meter hinunterstürzen konnte.
Aber Sam wollte kein Risiko eingehen. Es durfte keine Stürze mehr geben. Wenn sie bis ans Ende gespült würden und gegen die Sicherheitsbarriere prallten und nicht Myria den Knochenbrüche hätten, wenn sie aufstehen und sich bewegen könnten, um den langen Tunnel zurückzugehen, den steilen Hang hinauf und gegen das fließende Wasser, so war das eine Prüfung, an die Sam nicht einmal denken, geschweige denn sie durchmachen wollte.
Er hatte sein ganzes Leben lang geglaubt, er hätte Menschen im Stich gelassen. Er war zwar erst sieben gewesen, als seine Mutter bei dem Unfall ums Leben gekommen war, aber er hatte immer nagende Schuldgefühle angesichts ihres Todes verspürt, als hätte er sie trotz seines zarten Alters und trotz der Tatsache, daß er mit ihr im Wrack eingekeilt gewesen war, retten müssen. Später war es Sam nie gelungen, seinen betrunkenen, bösen Hurensohn von Vater zufriedenzustellen - und er hatte sehr unter diesem Unvermögen gelitten. Er war wie Harry der Meinung, daß er das Volk von Vietnam im Stich gelassen hatte, obwohl die Entscheidung, sie im Stich zu lassen, von weit höheren Dienstgraden gefällt worden war, auf die er keinen Einfluß hätte haben können. Keiner der FBI-Agenten, die in seinem Beisein gestorben waren, waren durch ihn gestorben, und doch war ihm, als hätte er auch sie im Stich gelassen. Irgendwie hatte er auch Karen im Stich gelassen, obwohl ihm die Leute immer sagten, er wäre verrückt zu denken, er habe irgendeine Verantwortung für ihren Krebs; er mußte nur ständig denken, wenn er sie mehr geliebt hätte, fester geliebt hätte, hätte sie Kraft und Willensstärke gefunden, es zu überwinden. Und weiß Gott, seinen Sohn Scott hatte er ganz besonders im Stich gelassen.
Chrissie drückte seine Hand.
Er drückte auch.
Sie schien so klein zu sein.
Vorhin hatten sie in Harrys Küche eine Unterhaltung über Verantwortung geführt. Jetzt wurde ihm plötzlich klar, daß sein Verantwortungsgefühl so ausgeprägt war, es kam einer Besessenheit gleich, aber er stimmte dem, was Harry gesagt hatte, trotzdem zu: Die Verpflichtungen eines Mannes gegenüber anderen, besonders Freunden und Familie, konnten niemals groß genug sein. Er hätte sich nie träumen lassen, daß er eine der wichtigsten Einsichten seines Lebens haben würde, während er fast bis zur Hüfte in schmutzigem Was ser in einem Abwasserkanal stand und auf der Flucht vor menschlichen und nichtmenschlichen Feinden war, aber hier hatte er sie nun einmal. Ihm wurde klar, daß sein Problem nicht die Bereitwilligkeit war, mit der er Verantwortung übernahm, oder deren gewaltiges Ausmaß, das zu tragen er bereit war. Nein, verflucht, sein Problem war, er hatte zugelassen, daß sein Gefühl für Verantwortung seine Fähigkeit, mit dem Scheitern zurechtzukommen, verdeckte. Von Zeit zu Zeit hatten alle
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