Mitternacht
geworfen hatte, was sich am Ende des Tunnels befand. Was er gesehen hatte, erfüllte ihn mit Entsetzen. Das Leben war, wenn auch manchmal grausam, dem vorzuziehen, was seiner Meinung nach danach folgte.
Er kam zur Ausfahrt Ocean Avenue. Am unteren Ende der Rampe, wo sich die Ocean Avenue unter dem Pacific Coast Highway nach Westen erstreckte, kam ein weiteres Schild: MOONLIGHT COVE ½ MEILE.
Ein paar Häuser standen in purpurner Düsternis zwischen den Bäumen auf beiden Seiten der zweispurigen Asphalt straße; die Fenster waren schon eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit gelb erleuchtet. Einige waren in dem bayerischen Stil erbaut, der nach Meinung einiger Bauherrn der vierziger und fünfziger Jahre mit der nordkalifornischen Küstenlandschaft harmonierte – Fachwerk und tiefgezogene Giebel. Andere waren Bungalows im Monterey-Stil mit wießen Verschalungsbrettern oder schindelverkleideten Mauern und üppigen architektonischen Verzierungen in einem Märchen-Rokoko-Stil. Da Moonlight Cove erst in den zu rückliegenden zehn Jahren gewachsen war, waren viele Häuser anmutige, moderne Bauwerke mit zahlreichen Fenstern, die an von einer unvorstellbaren Flut an Land geschleuderte Schiffe erinnerten, die auf den Klippen über dem Meer gestrandet waren.
Als Sam der Ocean Avenue in das sechs Blocks lange Ge schäftsviertel folgte, überkam ihn sofort ein seltsames Ge fühl, daß etwas nicht stimmte. Geschäfte, Restaurants, Tavernen, ein Markt, zwei Kirchen, die Stadtbücherei, ein Kino und andere gewöhnliche Einrichtungen befanden sich entlang der Hauptstraße, die sich bis zum Meer hinab erstreckte, aber für Sam hatte die Gemeinde etwas undefinierbares, aber überwältigend Seltsames an sich, und er erschauerte. Er konnte diese ablehnende Reaktion auf den Ort nicht exakt begründen, aber sie war höchstwahrscheinlich auf das ernste Spiel von Licht und Schatten zurückzuführen. Im freudlosen Sonnenschein des sterbenden Herbsttages sah die aus grauem Stein erbaute katholische Kirche wie eine fremde Stahlkonstruktion aus, die nicht für menschliche Zwecke geschaffen worden zu sein schien. Ein weißgetünchter, stuckverzierter Spirituosenladen sah aus, als bestünde er aus im Lauf der Zeit gebleichten Knochen. Viele Schaufenster waren vom grauen Star gespiegelten Lichts der Sonne befallen, die dem Horizont entgegensank, als wären sie bemalt worden, um die Aktivitäten derjenigen, die dahinter arbeiteten, zu verbergen. Die Schatten, welche von Häusern, Pinien und Zypressen geworfen wurden, waren pechschwarz, kantig und rasiermesserscharf.
Sam bremste vor der Ampel an der dritten Kreuzung, auf halbem Weg durch das Geschäftsviertel. Da hinter ihm kein Verkehr wartete, ließ er sich Zeit, die Leute auf den Gehwegen zu studieren. Es waren nicht viele zu sehen, acht oder zehn, doch auch sie machten ihn mißtrauisch, obwohl die Gründe, weshalb er ihnen gegenüber gemischte Gefühle hegte, nicht so greifbar waren wie jene, die seine Vorbehalte gegenüber dem Ort selbst hervorriefen. Sie schritten stramm und zielstrebig dahin, hatten die Köpfe erhoben und eine Aura des Zeitdrucks um sich, die nicht zu einer entspannten Strandsiedlung mit nur dreitausend Seelen zu passen schien.
Er seufzte und fuhr weiter die Ocean Avenue entlang, wo bei er sich sagte, daß seine Fantasie mit ihm durchging. Moonlight Cove und seine Einwohner hätten wahrschein lich nicht im mindesten seltsam gewirkt, wäre er nur auf der Durchreise gewesen und von der Küstenstraße abgebogen, um in einem hiesigen Restaurant zu essen. Aber er war schon mit dem Wissen hergekommen, daß hier etwas faul war, daher war es kein Wunder, daß er selbst in einer vollkommen unschuldigen Szene düstere Zeichen erblickte. Jedenfalls sagte er das zu sich selbst. Aber er wußte es besser.
Er war nach Moonlight Cove gekommen, weil hier Menschen gestorben waren, weil die offiziellen Angaben zu den Todesursachen verdächtig waren und er eine Ahnung hatte, daß die Wahrheit, war sie erst aufgedeckt, außergewöhnlich beunruhigend sein würde. Er hatte im Lauf der Jahre gelernt, auf diese Ahnungen zu achten; das hatte ihn am Leben gehalten.
Er parkte den gemieteten Ford vor einem Geschenkartikelladen.
Im Westen sank die blutarme Sonne am äußersten Rand des schiefergrauen Meeres durch einen Himmel, der langsam düster rot wurde. Tentakelgleiche Nebelschwaden stie gen langsam von dem bewegten Meer empor.
3
Chrissie Fester, die in der Speisekammer neben der Küche saß
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