Mitternachtsfalken: Roman
beiden kleineren Antennen verfolgte ihn im deutschen Luftraum. Wozu war dann aber die zweite kleine Antenne da?
Ihm fiel ein, dass sich, wenn ein Bomber gemeldet wurde, schon bald ein zweites Flugzeug in der Luft befand – der Abfangjäger, der hochgeschickt wurde, um den Bomber anzugreifen. War es denkbar, dass die Luftwaffe die zweite kleine Antenne dazu benutzte, ihre eigenen Flugzeuge zu verfolgen? Im ersten Moment hielt Harald den Gedanken für abwegig, doch als er einige Schritte zurücktrat, um eine Gesamtansicht der Anlage und die jeweilige Position der Antennen zueinander zu fotografieren, wurde ihm klar, dass dahinter durchaus Logik steckte: Wenn der Lotse der Luftwaffe sowohl die Position des Bombers als auch die des Abfangjägers kannte, konnte er Letzteren über Funk zu seinem Ziel dirigieren.
Allmählich begann er das System der Luftwaffe zu durchschauen: Die große Antenne warnte vor anfliegenden Bombern und sorgte somit dafür, dass die Abfangjäger rechtzeitig starten konnten. Eine der beiden kleineren Antennen suchte sich einen bestimmten Bomber aus dem Pulk heraus und verfolgte ihn, während die andere den Jäger gewissermaßen im Blick behielt, sodass ihn der Fluglotse präzise über die Position des Bombers auf dem Laufenden halten konnte. Danach war es geradezu ein Kinderspiel, die britische Maschine abzuschießen.
Bei diesem Gedanken wurde Harald sich seiner eigenen Exponiertheit bewusst: Da stand er aufrecht im vollen Tageslicht mitten auf einem Militärstützpunkt und fotografierte streng geheime Anlagen! Panische Angst durchfuhr ihn wie eine Giftinjektion. Er versuchte, sich zu beruhigen und die letzten Fotos zu schießen, auf denen die drei Antennen aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen sein sollten, doch seine Furcht war einfach zu groß. Er hatte ungefähr zwanzig Aufnahmen gemacht. Das muss reichen, sagte er sich.
Er stopfte die Kamera in seinen Schulranzen und brach eilig auf. Anstatt, wie geplant, die längere, aber auch sicherere Nordroute zu nehmen, versuchte er, das Gelände in südlicher Richtung zu verlassen, also über die offenen Dünen. Dort war der Zaun gleich hinter dem alten Bootshaus zu erkennen, in das er bei seinem ersten Aufenthalt beinahe hineingelaufen war. Heute wollte er es auf der Seeseite umgehen, weil es ihm zumindest für ein paar Schritte Deckung versprach.
Als er näher kam, fing ein Hund an zu bellen.
Harald sah sich hastig nach allen Seiten um, konnte aber weder Soldaten noch einen Hund entdecken. Dann merkte er, dass das Bellen vom Bootshaus her kam. Die Deutschen benutzten die verfallene Hütte offenbar als Zwinger. Schon begann ein zweiter Hund zu kläffen.
Harald fing an zu rennen.
Die Hunde stachelten sich gegenseitig auf. Es verging keine Minute, da bellte die ganze Meute und veranstaltete einen hysterischen Lärm. Hinter dem Bootshaus lief Harald zum Wasser hinunter und sprintete, die Hütte zwischen sich und den Hauptgebäuden, auf den Zaun zu. Die Angst verlieh ihm Flügel, denn er rechnete jeden Moment damit, Schüsse zu hören.
Ohne zu wissen, ob man ihn entdeckt hatte, erreichte er den Zaun, hangelte sich hoch wie ein Affe und setzte über den Stacheldraht. Auf der anderen Seite kam er hart im flachen, aufspritzenden Wasser auf. Er rappelte sich wieder auf und warf einen letzten Blick zurück durch den Zaun. Hinter dem Bootshaus, teilweise verdeckt von Büschen und Bäumen, konnte er die Hauptgebäude erkennen, doch noch immer war nirgendwo ein Soldat zu sehen. Er drehte sich um und rannte los. Damit die Hunde seinen Geruch nicht aufnehmen konnten, hielt er sich noch etwa hundert Meter weit im seichten Wasser und wechselte erst dann auf den Strand über. Er hinterließ flache Spuren im harten Sand, wusste aber aus Erfahrung, dass die Flut sie in den nächsten Minuten überspülen würde. Schließlich erreichte er die Dünen, wo
sich seine Spur nicht mehr verfolgen ließ.
Kurz darauf kam er zum Fahrweg. Er drehte sich um, sah aber keinen Verfolger. Atemlos rannte er an der Kirche vorbei zum Pfarrhaus und dort sofort zur Küchentür.
Sie stand offen. Seine Eltern pflegten früh aufzustehen.
Er trat ein. Seine Mutter stand im Morgenrock am Herd und kochte Tee. Als sie Harald erblickte, schrie sie vor Schreck auf. Die irdene Teekanne glitt ihr aus den Händen und fiel auf die Küchenfliesen. Die Tülle brach ab. Harald bückte sich und hob die beiden Teile auf. »Entschuldige«, sagte er, »ich wollte dich nicht
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