Mitternachtsfalken: Roman
ihn am Apparat hatte, sagte er: »Du hattest Recht. Es wird Zeit, dass wir Inge in ein Heim bringen.«
Flemming musterte das Königliche Theater, einen Kuppelbau aus dem neunzehnten Jahrhundert. Die Fassade aus gelbem Sandstein war über und über geschmückt mit Säulen, Pilastern, Kapitellen, Kragsteinen, Kränzen, Schilden, Leiern, Masken, Putten, Nixen und Engeln. Auf dem Dach gab es Urnen, Fackeln und vierfüßige Kreaturen mit Flügeln und weiblichen Brüsten. »Bisschen viel des Guten«, sagte Flemming. »Selbst für ein Theater.«
Tilde Jespersen lachte.
Sie saßen auf der Terrasse des Hotels d‘Angleterre. Von dort aus konnten sie Kongens Nytorv, den größten Platz in Kopenhagen, überblicken. Im Theater verfolgten die Balletteleven gerade eine Kostümprobe für die neueste Einstudierung von Les Sylphides. Flemming und Tilde warteten auf Karen Duchwitz.
Tilde gab vor, die Tageszeitung zu lesen. Die Schlagzeile auf der ersten Seite verkündete: LENINGRAD IN FLAMMEN! Sogar die Nazis selber waren überrascht, wie schnell sie in Russland vorankamen, und behaupteten, ihr Erfolg »übersteige jede Vorstellungskraft«.
Flemming hatte das Gespräch nur begonnen, um die Anspannung ein wenig zu mildern. Bis dato hatte sich sein Plan als totaler Fehlschlag erwiesen. Karen, die schon den ganzen Tag lang überwacht wurde, war lediglich zur Schule gegangen. Allerdings führte es zu nichts, wenn man sich über Dinge ärgerte, die nicht zu ändern waren
allenfalls zu Fehlern, und daher suchte Flemming Ablenkung. »Glaubst du«, fragte er, »dass die Architekten Theater und Opernhäuser absichtlich so einschüchternd gestalten, damit sich das einfache Volk nicht hineintraut?«
»Betrachtest du dich als zum einfachen Volk gehörig?«
»Selbstverständlich.« Den Eingang flankierten zwei sitzende, mit Grünspan überzogene Gestalten in Riesengröße. »Wer sind denn diese beiden Figuren?«
»Holberg und Oehlenschläger.«
Er erkannte die Namen der beiden großen dänischen Bühnendichter. »Theaterstücke mag ich eigentlich nicht so sehr – da wird mir zu viel geredet. Lieber schau ich mir Filme an, die mich zum Lachen bringen, die mit Buster Keaton oder Laurel und Hardy zum Beispiel. Hast du den gesehen, wo die beiden ein Zimmer weißen, und es kommt einer mit einem Brett über der Schulter rein?« Die Erinnerung daran ließ Flemming kichern. »Ich hab mich vor Lachen schier auf den Boden gesetzt!«
Tilde warf ihm einen ihrer rätselhaften Blicke zu. »Jetzt hast du mich aber echt überrascht. Ich hätte in dir nie einen Liebhaber von Slapstick-Filmen vermutet.«
»Was hast du denn gedacht, was mir gefällt?«
»Western, wo Revolverhelden mit ihren Schießeisen dafür sorgen, dass die Gerechtigkeit siegt.«
»Da hast du Recht, die mag ich auch. Und du? Gehst du gern ins Theater? Theoretisch sind die Kopenhagener ja sehr kulturbeflissen, aber die meisten von ihnen haben den Bau da drüben noch nie von innen gesehen.«
»Ich kann mich eher für Opern begeistern – du auch?«
»Naja. Die Musik ist ja ganz in Ordnung, aber die Handlung ist meistens albern.«
Tilde lächelte. »Von dieser Seite hab ich‘s noch nie gesehen, aber es stimmt. Und was ist mit Ballett? Wie gefällt dir das?«
»Ich seh eigentlich keinen rechten Sinn darin. Und die Kostüme sind so eigenartig. Um die Wahrheit zu sagen: Diese engen Klamotten der Männer finde ich ziemlich peinlich.«
Tilde lachte erneut. »Ach, Peter, du bist so komisch! Aber ich mag dich trotzdem.«
Er hatte nicht den amüsanten Unterhalter spielen wollen, nahm aber das Kompliment vergnügt entgegen und warf einen Blick auf die Fotografie, die er in der Hand hielt. Er hatte sie in Poul Kirkes Quartier gefunden. Sie zeigte Poul auf einem Fahrrad sitzend und Karen vor sich auf der Stange. Beide trugen sie Shorts, und Karen hatte wundervolle lange Beine. Sie wirkten so sehr wie ein glückliches Paar, so voller Energie und Lebensfreude, dass Flemming einen Moment lang tiefe Trauer über den Tod Pouls empfand und sich streng daran erinnern musste, dass Kirke aus freiem Willen Spion geworden war und sich höhnisch über Recht und Gesetz hinweggesetzt hatte.
Die Fotografie sollte Flemming helfen, Karen zu erkennen. Sie war ein attraktives Mädchen mit einem breiten Lächeln und einem wilden Lockenkopf – offenbar das genaue Gegenstück zu Tilde mit ihrem runden Gesicht und den netten, aber eher etwas zurückhaltend wirkenden Zügen. Es gab unter seinen Kollegen einige,
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