Mitternachtsfalken: Roman
die Tilde für frigide hielten – aber das weiß ich besser, dachte Flemming.
Über das Fiasko in dem Hotel auf Bornholm hatten sie seither kein Wort verloren. Flemming war die Angelegenheit zu peinlich, um sie zur Sprache zu bringen. Er hatte nicht die Absicht, sich zu entschuldigen – das hätte seine Demütigung nur noch verschlimmert. Allerdings nahm allmählich in seinem Kopf ein Plan Gestalt an, der so hanebüchen war, dass er bislang noch darauf verzichtete, sich die Details auszumalen.
»Da ist sie«, sagte Tilde.
Flemming bückte quer über den Platz und sah eine Gruppe junger Leute aus dem Theater kommen. Er erkannte Karen sofort. Sie trug einen steifen runden Strohhut in kecker Schräglage auf dem Kopf, dazu ein senfgelbes Sommerkleid, dessen weiter Rock verführerisch um ihre Knie tanzte. Das Schwarzweißfoto hatte weder der blütenweißen Haut noch dem flammend roten Haar Gerechtigkeit widerfahren lassen, und schon gar nicht jene lebendige Ausstrahlung wiedergeben können, die Flemming bereits aus der Entfernung wahrnahm. Karen wirkte nicht wie jemand, der einfach ein paar Treppenstufen hinuntergeht, nein, es sah eher so aus, als hätte sie einen großen Bühnenauftritt.
Sie überquerte die Straße und bog in die Stroget ein.
Peter Flemming und Tilde Jespersen erhoben sich.
»Ehe wir gehen.«, sagte er.
»Was?«
»Willst du heute Abend zu mir kommen?«
»Gibt es einen besonderen Anlass?«
»Ja, aber den möchte ich noch nicht verraten.«
»Gut, einverstanden.«
»Danke.« Er schwieg und machte sich eilends auf den Weg, um Karen nicht aus den Augen zu verlieren. Tilde folgte, wie vereinbart, in einiger Entfernung.
Die Stroget war eine schmale Straße, in der sich Passanten und Busse drängten. Einige Falschparker behinderten den Verkehr. Verdoppelt die Strafe und verstärkt die Kontrollen, sodass niemand mehr ungeschoren davonkommt, und das Problem ist gelöst, dachte Flemming. Er ließ Karens Strohhut nicht aus den Augen und betete insgeheim darum, dass sie nicht einfach bloß nach Hause fuhr.
Am Ende der Stroget lag der Rathausplatz, und dort trennten sich die Ballettschüler. Karen ging mit einem der Mädchen weiter. Die beiden unterhielten sich so angeregt, dass Flemming sich etwas näher heranwagte. Hinterm Tivoli blieben sie stehen, als wollten sie sich voneinander verabschieden, setzten ihr Gespräch aber fort. Hübsch und sorglos wirkten sie in der Nachmittagssonne, doch Flemming fragte sich ungeduldig, wie viel sich zwei Mädchen noch zu erzählen haben mochten, wenn sie schon den ganzen Tag miteinander verbracht hatten.
Endlich ging die Freundin in Richtung Hauptbahnhof davon, während Karen sich in die entgegengesetzte Richtung wandte. Flemmings Hoffnungen stiegen. War sie vielleicht unterwegs’ zu einem konspirativen Treffen mit einem der Spione? Er folgte ihr, doch zu seinem Unbehagen ging sie nur zum Untergrundbahnhof am Vesterport. Dort hielt der Zug, mit dem sie nach Kirstenslot fahren konnte.
Das sah gar nicht gut aus. Ihm blieben nur noch wenige Stunden, und dass Karen ihn nicht von sich aus zu einem der Verdächtigen führen würde, war ihm nun klar. Er musste eingreifen, und zwar schnell.
Am Eingang zum Bahnhof holte er sie ein und sprach sie an. »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Ich muss mit Ihnen reden.«
Karen streifte ihn mit einem Blick und ging weiter. »Worum geht es?«, fragte sie mit kühler Höflichkeit.
»Können wir kurz miteinander sprechen?«
Sie betrat die Treppe, die zu den Bahnsteigen hinabführte. »Wir sprechen bereits miteinander.«
Flemming gab sich nervös und aufgeregt. »Mit Ihnen zu sprechen bedeutet für mich ein großes Risiko.«
Damit hatte er sie. Sie blieb auf dem Bahnsteig stehen und sah sich nervös um. »Was ist los?«
Sie hat wunderschöne Augen, dachte Flemming. So ein erstaunlich klares Grün. »Es geht um Arne Olufsen«, sagte er und sah Furcht in den schönen Augen. Sein Instinkt hatte ihn nicht getrogen. Sie wusste etwas.
»Was ist mit ihm?« Karen sprach mit leiser, beherrschter Stimme.
»Sie sind doch eine Freundin von ihm?«
»Nein. Ich weiß zwar, wer er ist – ich war mit einem seiner Freunde befreundet -, aber ich kenne ihn kaum. Warum fragen Sie mich nach ihm?«
»Wissen Sie, wo er ist?«
»Nein.«
Ihre Antwort kam ohne Zögern, und Flemming stellte mit Bestürzung fest, dass sie offensichtlich die Wahrheit sagte.
Doch das war noch kein Grund, die Flinte ins Korn zu werfen. »Können Sie ihm eine Nachricht
Weitere Kostenlose Bücher