Mitternachtsfalken: Roman
letzten Büchsenlicht fuhr er los. Die Nacht wollte er in Kirstenslot verbringen.
Und was dann?
Am folgenden Abend erzählte Harald die ganze Geschichte Karen.
Sie saßen auf dem Fußboden in der alten Kirche, während sich draußen die Nacht niedersenkte und die verhüllten Gegenstände und Kisten in ein gespenstisches Zwielicht tauchte. Karen hatte die Beine gekreuzt und aus Bequemlichkeit den Rock ihres seidenen Abendkleids wie ein Schulmädchen über die Knie gezogen. Harald gab ihr Feuer, wenn sie eine Zigarette rauchen wollte, und spürte eine wachsende Vertrautheit mit ihr.
Er erzählte ihr von seinem Einsatz auf dem deutschen Stützpunkt und wie er sich schlafend gestellt hatte, als der Soldat sein Elternhaus durchsuchte. »Deine Nerven möchte ich haben!«, rief Karen aus. Er genoss ihre Bewunderung und war froh, dass sie die Tränen in seinen Augen nicht sehen konnte, als er berichtete, wie sein Vater ihm zuliebe gelogen hatte.
Er erzählte ihr auch von seiner Begegnung mit Heis und dessen Annahme, dass die Engländer beim nächsten Vollmond einen Großangriff auf Deutschland fliegen wollten und dass der Film deshalb noch vorher nach London gelangen müsse.
Als er berichtete, wie er bei Jens Toskvig geklingelt hatte und ein Polizist ihm die Haustür öffnete, unterbrach ihn Karen: »Ich bin gewarnt worden«, sagte sie.
»Wie meinst du das?«
»Am Bahnhof hat mich ein Fremder angesprochen und mir gesagt, die Polizei wisse, wo sich Arne versteckt. Der Mann war selber Polizist, bei der Verkehrspolizei, aber er hatte zufällig was mitbekommen und wollte uns warnen, weil er auf unserer Seite steht.«
»Und du hast Arne nicht gewarnt?«
»Doch, hab ich! Ich wusste, dass er bei Jens ist, also hab ich mir im Telefonbuch die Adresse von Jens herausgesucht und bin zu ihm gegangen. Arne war da, und ich hab ihm alles erzählt.«
Harald kam das ein bisschen komisch vor. »Und was hat Arne dazu gemeint?«
»Er sagte mir, ich solle zuerst gehen, er selber wollte gleich nach mir verschwinden. Offenbar hat er zu lange gewartet.«
»Oder diese Warnung war eine Finte«, meinte Harald nachdenklich.
»Was willst du damit sagen?«, fragte Karen in scharfem Ton.
»Vielleicht hat dieser Polizist gelogen. Mal angenommen, er war gar nicht auf unserer Seite, ist dir zu Arnes Versteck gefolgt und hat ihn verhaftet, sobald du gegangen warst.«
»Das ist doch lächerlich – so was tut doch kein Polizist!«
Harald erkannte, dass er wieder einmal mit Karens Glauben an die Integrität und den guten Willen ihrer Mitmenschen in Konflikt geraten war. Entweder war sie zu leichtgläubig – oder er selbst war inzwischen schon übertrieben misstrauisch. Er wusste nicht, wer von ihnen im Recht war. Karens Einstellung erinnerte ihn an die Überzeugung ihres Vaters, die Nazis würden den dänischen Juden nichts antun. Nur allzu gerne hätte er den beiden geglaubt. »Wie hat der Mann ausgesehen?«, fragte er Karen.
»Gut. Er war groß und kräftig, hatte rotes Haar und trug einen schicken Anzug.«
»In hellbeigem Tweed?«
»Ja.«
Damit war alles klar. »Das war Peter Flemming.« Er konnte Karen keine Vorwürfe machen: Sie hatte geglaubt, Arne zu retten, und war einer raffinierten List zum Opfer gefallen. »Peter ist vom Typ her eher ein Spion als ein Polizist. Ich kenne seine Familie. Er stammt auch aus Sande.«
»Das glaube ich dir nicht!«, widersprach Karen hitzig. »Du hast einfach zu viel Fantasie!«
Er wollte sich nicht mit ihr streiten. Es war schlimm genug zu wissen, dass sein Bruder verhaftet worden war. Arne, der arglose Arne, dem jede Verschlagenheit fremd war, hätte niemals in ein solches Ränkespiel verwickelt werden dürfen. Traurig fragte sich Harald, ob er seinen Bruder jemals wiedersehen würde.
Aber es gab noch andere Menschen, deren Leben auf dem Spiel stand. »Arne wird diesen Film nicht nach England bringen können.«
»Was willst du jetzt damit tun?«
»Ich weiß es noch nicht. Ich würde ihn ja selber hinbringen, aber ich habe keine Ahnung, wie.« Er berichtete ihr, was er im Jazz-Club mit Betsy und Luther erlebt hatte. »Vielleicht ist es sogar gut, dass ich nicht nach Schweden kann. Wahrscheinlich wäre ich dort verhaftet worden, weil ich keine gültigen Papiere habe.« Das Neutralitätsabkommen zwischen Schweden und Hitler-Deutschland sah unter anderem vor, dass illegal nach Schweden einreisende Dänen verhaftet wurden. »Ich habe ja nichts dagegen, ein Risiko einzugehen, aber die Erfolgschancen
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