Mitternachtsfalken: Roman
Barhocker. »Ich warte hier.«
»Da drüben ist Trude«, sagte der Mann hinterm Tresen hilfsbereit.
Harald warf einen Blick in die angegebene Richtung und sah eine blonde junge Frau, die aus einem mit Lippenstiftflecken übersäten Glas trank. Er schüttelte den Kopf. »Ich will Betsy.«
»Diese Dinge sind sehr persönlich«, bemerkte der Barkeeper weise.
Harald unterdrückte ein Lächeln über diese Binsenweisheit. Was konnte schon persönlicher als Geschlechtsverkehr sein? »Das ist wirklich wahr«, erwiderte er. Waren Kneipengespräche immer so dümmlich?
»Einen Drink, während Sie warten?«
»Ein Bier bitte.«
»Einen Kurzen dazu?«
»Nein, danke.« Allein schon bei dem Gedanken an Aquavit wurde Harald übel.
Nachdenklich nippte er an seinem Bier. Er hatte den ganzen Tag lang über seine missliche Lage nachgedacht. Die Anwesenheit eines Polizisten in Arnes Unterschlupf bedeutete mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass sein Bruder entdeckt worden war. Sollte er aber auf wundersame Weise doch noch der Verhaftung entronnen sein, so gab es nur einen Ort, an dem er sich verbergen konnte, und das war die Klosterruine in Kirstenslot. Harald war hingefahren und hatte nachgesehen, aber keinen Menschen dort vorgefunden.
Mehrere Stunden lang hatte er auf den Steinfliesen der Kirche gehockt und in tiefer Sorge über Arnes Schicksal darüber nachgegrübelt, was er nun tun sollte.
Wenn er die Mission seines Bruders erfüllen wollte, musste er den Film innerhalb der nächsten elf Tage nach London bringen.
Arne musste einen Plan dafür gehabt haben, doch den kannte Harald nicht, und da er auch keine Ahnung hatte, wie er ihn herausfinden sollte, musste er sich einen eigenen ausdenken.
Die einfachste Lösung hätte darin bestanden, die Negative in einen Umschlag zu stecken und sie per Post an die britische Gesandtschaft in Stockholm zu schicken. Allerdings konnte er mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass jede Sendung an diese Adresse von der Zensur geöffnet wurde.
Er hatte nicht das Glück, mit einem der wenigen Menschen bekannt zu sein, die mit offizieller Erlaubnis zwischen Dänemark und Schweden hin und her reisen durften. Sollte er zum Fährkai in Kopenhagen gehen oder zum Fährbahnhof in Helsingborg und auf gut Glück einen Passagier bitten, den Umschlag mitzunehmen? Nein, das war mindestens genauso riskant wie der Versand per Post.
Am Ende der eintägigen Grübelei kam Harald zu dem Schluss, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als selber nach Schweden zu fahren.
Offen konnte er das keinesfalls tun. Nachdem sein Bruder inzwischen als Spion galt, würde er nie eine Reisegenehmigung erhalten. Er musste das Land also heimlich verlassen. Jeden Tag fuhren Schiffe von Dänemark nach Schweden und zurück. Es musste eine Möglichkeit geben, in Dänemark unbemerkt an Bord zu gehen und das Schiff in Schweden heimlich zu verlassen. Er erwog, als Seemann anzuheuern, aber auch das war unmöglich: Seeleute hatten besondere Ausweise. Allerdings gab es wie in jedem Hafenviertel auch in Kopenhagen eine recht aktive Unterwelt: Schmuggel, Diebstahl, Prostitution, Drogen. Er musste also Kontakt zu Kriminellen aufnehmen und in deren
Milieu jemanden finden, der bereit war, ihn illegal nach Schweden einzuschleusen.
Als es gegen Abend abkühlte und die Fliesen zu kalt wurden, war Harald wieder auf sein Motorrad gestiegen und zum Jazz-Club gefahren. Dort hoffte er den einzigen Kriminellen anzutreffen, dem er in seinem bisherigen Leben begegnet war.
Auf Betsy musste er nicht lange warten. Sein Bierglas war noch halb voll, als sie erschien. In Begleitung eines Mannes, den sie, wie Harald annahm, gerade in einem der oberen Schlafzimmer bedient hatte, kam sie die Hintertreppe herunter. Ihr Kunde hatte eine bleiche, ungesunde Haut, geradezu brutal kurz geschnittene Haare und unterhalb des linken Nasenlochs Gesichtsherpes. Harald hielt den etwa Siebzehnjährigen, der rasch die Bar durchquerte und sich hinausstahl, für einen Matrosen.
Betsy kam zur Bar, streifte ihn mit einem flüchtigen Blick, stutzte und sah noch einmal hin. »Hallo, Schuljunge«, sagte sie liebenswürdig.
»Hallo, Prinzessin.«
Kokett warf sie den Kopf zurück und schüttelte ihre dunklen Locken. »Hast du deine Meinung geändert? Wollen wir mal?«
Harald empfand allein die Vorstellung, nur ein paar Minuten nachdem sie mit dem Matrosen zusammen gewesen war, mit ihr zu schlafen, als ekelerregend, erwiderte jedoch schlagfertig: »Nicht,
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