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Mitternachtsfalken: Roman

Titel: Mitternachtsfalken: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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so lange beschäftigen? Immerhin hatte er ja nichts anderes zu tun. Die Kompanie stand um fünf Uhr dreißig auf- bis dahin war noch über eine Stunde Zeit – und ging um sechs Uhr an die Arbeit. Wenn in der folgenden Stunde nicht gerade die Engländer in Dänemark einmarschierten, bestand für den Posten keinerlei Grund, das Gespräch mit einem hübschen Mädchen abzukürzen. Allerdings war er Soldat und von daher der militärischen Disziplin unterworfen; es war also möglich, dass er einen Patrouillengang für seine Pflicht hielt.
    Harald blieb nichts anderes übrig, als das Beste zu hoffen -und sich zu beeilen.
    Er trug den dritten Kanister zur Kirche. Schon mehr als fünfzig Liter, dachte er optimistisch. Das sind über dreihundert Kilometer – ein Drittel der Gesamtstrecke nach England.
    Hin und zurück, hin und zurück – unverdrossen setzte er seine Pendelei fort. Nach dem Handbuch, das er im Cockpit gefunden hatte, besaß die DH87B Hornet Moth mit vollem Tank eine Reichweite von 1017 Kilometern, vorausgesetzt, es war windstill. Die Entfernung bis zur englischen Küste betrug laut Atlas ungefähr 965 Kilometer. Die Sicherheitsreserve war demnach denkbar gering. Gegenwind würde die Reichweite verkürzen und zwangsläufig zu einer Notwasserung in der Nordsee fuhren. Harald beschloss, einen vollen Benzinkanister mit in die Kabine zu nehmen. Damit würde die Reichweite der Hornet Moth um annähernd 115 Kilometer verlängert – vorausgesetzt, es gelang ihm, auszutüfteln, wie er den Tank während des Flugs nachfüllen konnte.
    Er pumpte mit der rechten Hand und trug den Kanister in der linken. Als er die vierte Füllung in den Flugzeugtank bugsierte, taten ihm bereits beide Arme weh. Unterwegs zur fünften sah er, dass der Wachposten sich erhob; er wollte offenbar gehen. Karen hielt das Gespräch jedoch im Gang. Sie lachte über eine seiner Äußerungen und gab ihm einen spielerischen Klaps auf die Schulter – eine kokette Geste, die vollkommen untypisch für Karen war. Trotzdem spürte Harald den Stachel der Eifersucht. Mir hat sie noch nie einen spielerischen Klaps auf die Schulter gegeben, dachte er.
    Aber sie hatte ihn Liebster genannt.
    Er schleppte den vollen Kanister ein fünftes und ein sechstes Mal zur Hornet Moth und hatte danach das Gefühl, nun schon zwei Drittel des Weges zur englischen Küste hinter sich zu haben.
    Jedes Mal, wenn die Angst ihn zu übermannen drohte, dachte er an seinen Bruder. Es fiel ihm schwer, sich mit Arnes Tod abzufinden. Immer wieder stellte er sich die Frage, ob Arne sein gegenwärtiges Verhalten billigen und was er zu dem einen oder anderen Punkt ihres Plans sagen würde. Würde er sich darüber amüsieren? Wäre er skeptisch oder vielleicht sogar beeindruckt? So betrachtet, war Arne immer noch ein Teil von Haralds Leben.
    Harald glaubte nicht an den starrsinnig irrationalen Fundamentalismus seines Vaters. Das Gerede von Himmel und Hölle kam ihm vor wie reiner Aberglaube. Nun aber erkannte er, dass die Toten doch auf bestimmte Weise weiterlebten, und zwar in der Erinnerung jener, die sie geliebt hatten, und dass dies eine Art von Leben nach dem Tode war. Jedes Mal, wenn Harald in seiner Entschlossenheit wankte, rief er sich in Erinnerung, dass Arne sich selbst für diese Mission geopfert hatte, und verspürte dabei ein tiefes Loyalitätsgefühl, das ihm neue Stärke verlieh – auch wenn der Bruder, dem er diese Loyalität schuldete, nicht mehr lebte.
    Als er mit der siebten Kanisterfüllung zur Kirche zurückkehrte, wurde er entdeckt.
    Kurz vor dem Portal trat ein Soldat in Unterwäsche aus dem Kreuzgang. Harald blieb wie angewurzelt stehen und hatte das Gefühl, der Benzinkanister in seiner Hand wäre so verräterisch wie ein rauchender Colt. Der Soldat, der offenbar noch halb schlief, ging zu einem Busch, wo er sein Wasser abschlug und dabei herzhaft gähnte. Jetzt erst erkannte Harald, dass es Leo war, der junge Rekrut, der vor drei Tagen so penetrant freundlich gewesen war.
    Leo fing Haralds Blick auf und erschrak, weil er sich ertappt fühlte. »Entschuldigung«, murmelte er.
    Harald erriet, dass es offenbar vorschriftswidrig war, in die Büsche zu pinkeln. Die Soldaten hatten hinter dem Kloster eine Latrine ausgehoben, doch bis dorthin war es Leo wohl zu weit gewesen. Harald bemühte sich um ein Lächeln, von dem er hoffte, es wäre beruhigend. »Keine Angst«, sagte er auf Deutsch, doch er merkte selbst, wie seine Stimme vor Angst zitterte.
    Leo schien das

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