Mitternachtsfalken: Roman
erkennen, wenn ihr Blick auf die schimmernden Juwelen an ihren Handgelenken fiel.
Nachdem er ihr die Haare gebürstet hatte, betrachteten sie beide ihr Spiegelbild. Inge war eine hübsche Blondine mit blasser Haut. Vor dem Unfall hatte sie ein verführerisches Lächeln gehabt und eine kokette Art, mit den Wimpern zu klimpern. Jetzt war ihr Gesicht leer und ausdruckslos.
Als sie zu Pfingsten auf Sande gewesen waren, hatte Peters Vater seinen Sohn zu überreden versucht, Inge in einem privaten Pflegeheim unterzubringen. Peter hätte das niemals bezahlen können, doch Axel Flemming war bereit, die Kosten zu übernehmen. Er wolle, dass sein Sohn frei sei, sagte er, aber in Wahrheit steckte etwas ganz anderes dahinter: Er sehnte sich verzweifelt nach einem Enkelsohn, der seinen Namen trug. Peter dagegen sah es als seine Pflicht an, sich um seine Frau zu kümmern. In seinen Augen war Pflichterfüllung die höchste Tugend eines Mannes. Wenn er sich dieser Aufgabe entzog, würde er seine Selbstachtung verlieren.
Er führte Inge ins Wohnzimmer und ließ sie neben dem Fenster Platz nehmen. Er suchte einen Musiksender, drehte das Radio aber leise und kehrte ins Badezimmer zurück.
Das Gesicht, das sich ihm im Rasierspiegel präsentierte, war ebenmäßig und gut proportioniert. Inge hatte immer gesagt, er sehe wie ein Filmstar aus. Nach dem Unfall waren ihm die ersten grauen Härchen in seinen morgendlichen Bartstoppeln aufgefallen, und um seine orangebraunen Augen herum zeichnete sich tiefe Erschöpfung ab. Seine Kopfhaltung verriet jedoch Stolz, und in der geraden Linie seiner Lippen lag unbeugsame Korrektheit.
Nachdem er sich rasiert hatte, band er sich seine Krawatte um und legte sein Schulterhalfter mit der Walther-7.65-Pistole an – die kleine siebenschüssige Version, die leicht zu verstecken und eigens für den Polizeidienst entworfen worden war. Dann aß er in der Küche drei Scheiben Trockenbrot im Stehen; die knapp bemessene Butter hob er für Inge auf.
Die Krankenschwester sollte um acht Uhr kommen.
Zwischen acht und fünf nach acht änderte sich Peter Flemmings Stimmung. Unruhig ging er in dem kleinen Flur auf und ab, zündete sich eine Zigarette an und drückte sie kurz danach ungeduldig wieder aus. Alle paar Sekunden warf er einen Blick auf seine Armbanduhr.
Zwischen fünf nach acht und zehn nach acht verwandelte sich seine Ungeduld in Wut. Hatte er denn nicht schon genug am Hals? Er musste die Pflege seiner völlig hilflosen Ehefrau mit dem anstrengenden und verantwortungsvollen Beruf eines Polizei-Inspektors vereinbaren. Diese Krankenschwester hatte einfach kein Recht, ihn hängen zu lassen.
Als es um Viertel nach acht endlich klingelte, riss er die Tür auf und schrie die Pflegerin an: »Was fällt Ihnen ein, zu spät zu kommen?«
Sie war erst neunzehn, ein pummeliges Mädchen in einer sorgfältig gebügelten Tracht. Ihr Haar hatte sie ordentlich unter dem Schwesternhäubchen zusammengesteckt und das runde Gesicht dezent geschminkt. Flemmings Zornesausbruch erschreckte sie. »Es tut mir Leid«, stammelte sie.
Er trat zur Seite, um sie einzulassen, wobei er ernsthaft versucht war, sie zu schlagen. Die Krankenschwester schien das zu spüren; nervös huschte sie an ihm vorbei.
Er folgte ihr ins Wohnzimmer. »Für Ihre Frisur und fürs Schminken hat die Zeit offenbar gereicht«, sagte er, noch immer zutiefst verärgert.
»Ich hab doch gesagt, dass es mir Leid tut.«
»Begreifen Sie nicht, dass ich einen äußerst anspruchsvollen Beruf habe? Sie haben nichts Wichtigeres im Kopf, als mit irgendwelchen Jungs durch den Tivoli zu bummeln – und schaffen es trotzdem nicht, pünktlich zur Arbeit zu kommen!«
Die Krankenschwester blickte ängstlich auf die Pistole in Flemmings Schulterhalfter, als fürchte sie, er werde sie gleich erschießen. »Der Bus hatte Verspätung«, sagte sie mit zitternder Stimme.
»Dann nimm gefälligst einen früheren, du faule Kuh!«
»Oh!« Sie sah aus, als wollte sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen.
Peter Flemming wandte sich ab. Er musste noch immer gegen den Drang ankämpfen, dieser feisten Visage ein paar Ohrfeigen zu verpassen. Nur – wenn das Mädchen ihm jetzt davonlief, steckte er noch viel tiefer in der Bredouille als ohnehin schon. Er zog sein Jackett an und ging zur Tür. »Wehe, das passiert noch einmal!«, schrie er und verließ die Wohnung.
Draußen auf der Straße nahm er die nächstbeste Straßenbahn Richtung Stadtmitte, zündete sich eine Zigarette
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