Mitternachtsfalken: Roman
»Du hast mir doch erzählt, dass du in der Kirche deines Vaters Klavier spielst.«
Harald setzte sich an den Flügel. Einer kultivierten jüdischen Familie konnte er lutherische Kirchenchoräle kaum zumuten. Nach kurzem Zögern begann er Pine Top‘s Boogie-Woogie zu spielen. Das Stück begann mit einem melodischen Triller der rechten Hand. Dann setzte die Linke mit dem eindringlich rhythmischen Bass ein, während die Rechte die so verführerischen dissonanten Bluesakkorde spielte. Es dauerte nicht lange, und Harald vergaß seine Befangenheit. Die Musik hatte ihn jetzt gepackt, und er spielte lauter, emphatischer. Zu den Höhepunkten rief er auf Englisch »Everybody, boogie-woogie!«, genau wie Clarence »Pine Top« Smith, und beim Schlussakkord sagte er: »That‘s wbat I‘m talkin‘ about!«
Am Ende seiner Darbietung blieb es peinlich still im Raum. Herr Duchwitz trug den schmerzvollen Gesichtsausdruck eines Mannes, der versehentlich etwas Verdorbenes verschluckt hat. Selbst Tik wirkte verlegen. Frau Duchwitz sagte: »Nun, ich muss schon sagen, ja, ich glaube nicht, dass dergleichen in diesen vier Wänden schon einmal zu hören war.«
Harald erkannte, dass er einen Fauxpas begangen hatte. Die schöngeistige Familie Duchwitz lehnte Jazz genauso ab wie seine eigenen Eltern. Hohe Bildung bedeutete nicht automatisch auch Toleranz in Geschmacksfragen. »Au weh«, sagte er, »das war wohl doch nicht ganz das Richtige.«
»In der Tat nicht«, stellte Herr Duchwitz fest.
Hinter dem Sofa stand Karen. Als sich ihre Blicke trafen, rechnete er schon mit einem anmaßenden Lächeln, doch zu seiner großen Überraschung und Freude strahlte sie übers ganze Gesicht und zwinkerte ihm zu.
Der Reinfall hatte sich gelohnt.
Als er am Sonntagmorgen aufwachte, dachte er an Karen.
Er hoffte, sie würde wie tags zuvor wieder in Tiks Zimmer kommen und ein bisschen mit ihnen plaudern, aber sie tauchte nicht auf. Auch zum Frühstück erschien sie nicht. In bemüht beiläufigem Ton fragte er Tik nach ihrem Verbleib.
»Wahrscheinlich übt sie«, sagte Tik desinteressiert.
Nach dem Frühstück lernten Harald und Tik zwei Stunden lang für das bevorstehende Abitur. Angst davor brauchten sie beide nicht zu haben, doch wollten sie kein Risiko eingehen, und außerdem entschieden die Abschlussnoten darüber, ob sie auf die Universität gehen durften oder nicht. Gegen elf Uhr brachen sie zu einem Spaziergang über den Duchwitz‘schen Besitz auf.
Am Ende des langen Fahrwegs kamen sie zu einem aufgelassenen alten Kloster, das teilweise hinter Bäumen versteckt war. »Es wurde nach der Reformation vom dänischen König übernommen und hundert Jahre lang als Wohnhaus genutzt«, sagte Tik. »Dann wurde Kirstenslot erbaut und das alte Gemäuer nicht mehr gebraucht.«
Sie erforschten den Kreuzgang, in dem einst die Mönche gewandelt waren. Die Klosterzellen dienten nun als Abstellräume für Gartengeräte. »Einiges von diesem Zeug liegt schon seit Jahrzehnten hier herum«, sagte Tik und trat mit der Schuhspitze an ein altes Eisenrad. Dann öffnete er eine Tür, und sie betraten einen großen, hellen Raum. Es war sauber und trocken, obwohl die schmalen Fenster nicht verglast waren. »Das ehemalige Dormitorium, also der Schlafsaal«, erklärte Tik. »Im Sommer wird es noch von den Erntehelfern genutzt.«
Die einstige Kirche diente inzwischen als Rumpelkammer. Ein muffiger Geruch hing in der Luft. Ein magerer schwarzweißer Kater starrte die beiden Jungen an, als wolle er fragen, mit welchem Recht sie einfach so hereinspazierten. Dann machte er sich durch eines der unverglasten Fenster davon.
Harald hob eine Segeltuchplane. Darunter schimmerte ein aufgebockter Rolls-Royce. »Der Wagen deines Vaters?«, fragte er.
»Ja – vorübergehend eingemottet. Bis es wieder Benzin zu kaufen gibt.«
Auch eine ramponierte Werkbank mit einem Schraubstock sowie diverse Werkzeuge, mit denen der Wagen zu normalen Zeiten vermutlich gewartet wurde, waren vorhanden, und in einer Ecke befand sich ein Waschbecken mit einem Wasserhahn. An der Wand stapelten sich alte Seifen- und Orangenkisten. Harald warf einen Blick in eines der Behältnisse und entdeckte ein Sammelsurium von Spielzeugautos aus bemaltem Zinn. Er nahm eines heraus. Auf die Fenster war ein Chauffeur aufgemalt – an der Seite im Profil und auf der Windschutzscheibe von vorne. Harald konnte sich an eine Zeit erinnern, da er solcherlei Spielzeug für das Begehrenswerteste auf der ganzen
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