Mitternachtsfalken: Roman
ja, sollte es das?«, erwiderte Karen kühl, und Harald merkte, dass er sie beleidigt hatte.
Er wollte gerade erzählen, wie man Onkel Joachim verfolgt hatte, doch da gesellte sich Frau Duchwitz zu ihnen, und das Gespräch wandte sich der neuesten Produktion des Königlich-Dänischen Balletts zu, einer Aufführung mit dem Titel Les Sylphides.
»Ich liebe die Musik«, sagte Harald. Er hatte sie im Radio gehört und konnte sie auszugsweise auf dem Klavier spielen.
»Haben Sie das Ballett schon auf der Bühne gesehen?«, fragte ihn Frau Duchwitz.
»Nein.« Er hätte jetzt am liebsten den Eindruck vermittelt, dass er schon viele Ballettaufführungen gesehen habe und nur zufällig diese eine noch nicht. Doch dann fiel ihm eben noch rechtzeitig ein, wie riskant solche Hochstapelei im Kreise dieser hoch gebildeten Familie wäre. »Um ehrlich zu sein, ich war überhaupt noch nie im Theater«, bekannte er.
»Wie furchtbar!«, sagte Karen herablassend, Ihre Mutter warf ihr einen missbilligenden Blick zu. »Dann muss Karen Sie mal mitnehmen«, sagte sie.
»Mutter!«, protestierte Karen. »Ich habe entsetzlich viel zu tun. Ich bin die zweite Besetzung für eine Hauptrolle und muss üben, üben, üben!«
Harald fühlte sich gekränkt durch diese Ablehnung, vermutete aber, dass Karen ihm damit seine respektlose Bemerkung zu ihrem Kommentar über die Nazis heimzahlen wollte.
Er trank sein Glas aus. Der bittersüße Cocktail hatte ihm geschmeckt und entspanntes Wohlbehagen in ihm ausgelöst, ihn vielleicht aber auch dazu verleitet, seine Worte nicht so zu wägen, wie es sich gehört hätte. Es tat ihm jetzt Leid, dass er Karen angegriffen hatte. Ihre kühle Reaktion machte ihm klar, wie sehr er sie vom ersten Augenblick an gemocht hatte.
Das Mädchen, das die Getränke serviert hatte, verkündete, dass das Essen fertig sei, und öffnete eine große Flügeltür, die ins Speisezimmer führte. Sie gingen hinüber und ließen sich am Ende eines langen Tisches nieder. Das Mädchen offerierte Wein, doch Harald lehnte dankend ab.
Es gab Gemüsesuppe, Dorsch in weißer Soße und Lammkotelett mit Bratensoße. Obwohl die Lebensmittel im Lande rationiert waren, herrschte hier geradezu Überfluss. Frau Duchwitz erklärte es damit, dass das Meiste vom eigenen Gut stammte.
Solange sie bei Tisch saßen, vermied es Karen, Harald direkt anzusprechen. Mit ihren Gesprächsbeiträgen wandte sie sich stets an die Allgemeinheit, und wenn er ihr eine direkte Frage stellte, wich sie seinem Blick aus und sah bei ihrer Antwort die anderen an. Harald fühlte sich niedergeschlagen. Sie war das bezauberndste Mädchen, das er je kennen gelernt hatte, und binnen weniger Stunden hatte er sie so verprellt, dass sie nichts mehr von ihm wissen wollte.
Nach dem Essen zog man sich in den Salon zurück und trank echten Bohnenkaffee. Harald fragte sich, wo Frau Duchwitz ihn gekauft haben mochte. Kaffee war so wertvoll wie Goldstaub, und aus einem dänischen Garten kam er garantiert nicht.
Schließlich ging Karen auf die Terrasse hinaus, um eine Zigarette zu rauchen. Tik erklärte seinem Freund, dass die altmodischen Eltern es nicht gerne sahen, wenn Mädchen rauchten. Harald dagegen verging fast vor Ehrfurcht angesichts solcher Weitläufigkeit: ein Mädchen, das Cocktails trank und rauchte.
Als Karen wieder hereinkam, setzte sich Herr Duchwitz an den Flügel und begann in den Noten zu blättern. Frau Duchwitz stellte sich hinter ihn.
»Beethoven?«, fragte er, und sie nickte. Er spielte ein paar Takte, und seine Frau begann ein deutsches Lied zu singen. Harald war beeindruckt und applaudierte, als das Lied zu Ende war.
»Sing uns noch eins, Mutter«, bat Tik.
»Einverstanden, aber danach musst du auch was spielen, Josef.«
Die Eltern trugen ein weiteres Lied vor. Dann holte Tik seine Klarinette und spielte ein einfaches Wiegenlied von Mozart. Herr Duchwitz setzte sich noch einmal ans Klavier. Diesmal spielte er einen Walzer von Chopin, der in Les Sylpbides enthalten war, und Karen schlüpfte aus ihren Schuhen und zeigte ihnen einen der Tänze, die sie gerade einstudierte.
Am Ende ruhten alle Blicke auf Harald, und ihm wurde klar, dass man nun auch von ihm einen Beitrag erwartete. Singen konnte er nicht, allenfalls ein paar dänische Volkslieder grölen, aber das war in diesem Kreise ausgeschlossen. Er musste sich also wohl oder übel an den Flügel setzen. »Klassische Musik ist nicht gerade meine Stärke«, sagte er.
»Unfug«, widersprach ihm Tik.
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