Mitternachtsfalken: Roman
Waschbecken. »In der Schule rasierst du dich nur einmal am Tag«, sagte Harald.
»Mutter ist so pingelig! Und mein Bart ist ja dunkel. Sie sagt, ich sehe wie ein Kohlekumpel aus, wenn ich mich abends nicht rasiere.«
Harald zog sein weißes Hemd und die Schulhose an. Dann ging er in wieder in Tiks Zimmer, um sich vor dem Spiegel über dem Ankleidetisch die feuchten Haare zu kämmen. Er war noch nicht fertig damit, als plötzlich, ohne vorher anzuklopfen, eine junge Frau ins Zimmer kam.
»Hallo«, sagte sie, »du bist sicher Harald.«
Es war das Mädchen, das er auf dem Foto gesehen hatte. Doch das Schwarzweißbild wurde ihr in keiner Weise gerecht. Sie hatte eine sehr helle Haut und grüne Augen, und ihr lockiges Haar war von lebhaftem Kupferrot. Sie war hoch gewachsen und glitt in ihrem langen, dunkelgrünen Kleid wie ein Geist durchs Zimmer. Mit der Leichtigkeit eines Athleten ergriff sie einen schweren Stuhl an der Lehne, drehte ihn herum, setzte sich und schlug ihre langen Beine übereinander. »Nun?«, fragte sie. »Hab ich Recht gehabt? Bist du Harald?«
Es hatte ihm vorübergehend die Sprache verschlagen. Jetzt gelang es ihm, ein »Ja, der bin ich« über die Lippen zu bringen. Seine nackten Füße waren ihm peinlich. »Und du bist Tiks Schwester.«
»Tik?«
»So nennen wir Josef in der Schule.«
»Na gut. Ja, ich bin Karen. Einen Spitznamen habe ich nicht. Ich hab von deinem Auftritt in der Schule gehört. Du hattest vollkommen Recht. Ich hasse die Nazis – was bilden die sich eigentlich ein, wer sie sind?«
Tik kam, in ein großes Handtuch gehüllt, aus dem Badezimmer. »Hast du denn keinerlei Respekt vor der Privatsphäre eines Gentlemans?«, fragte er seine Schwester.
»Nein, hab ich nicht«, gab sie zurück. »Ich will einen Cocktail, und die weigern sich, mir einen zu geben, solange nicht mindestens ein Mann im Zimmer ist. Weißt du, ich glaube, Diener erfinden diese blöden Regeln selber.«
»Dann schau jetzt gefälligst mal kurz weg«, sagte Tik und ließ zu Haralds Verblüffung das Handtuch fallen.
Karen ließ sich von der Nacktheit ihres Bruders nicht stören und dachte gar nicht daran, wegzuschauen. »Wie geht‘s dir denn so, du schwarzäugiger Zwerg?«, neckte sie ihn, während er sich eine saubere weiße Unterhose anzog.
»Ganz gut, aber noch besser geht‘s mir, wenn ich die Examina hinter mir habe.«
»Was machst du eigentlich, wenn du durchfällst?«
»Dann werde ich wahrscheinlich in der Bank landen. Ich nehme an, dass Vater mich von der Pike auf dienen lassen wird, das heißt, ich werde erst mal die Tintenfässchen der Hilfsbuchhalter füllen dürfen.«
»Der fällt nicht durch«, sagte Harald zu Karen.
»Du bist vermutlich auch so gescheit wie Josef, oder?«
»Noch viel gescheiter, wenn du‘s genau wissen willst«, sagte Tik.
Harald hätte lügen müssen, um zu widersprechen. Die Situation war ihm peinlich, daher wechselte er rasch das Thema. »Wie ist es denn so auf der Ballettschule?«, fragte er.
»Eine Mischung zwischen Militärdienst und Knast.«
Harald starrte Karen fasziniert an. Er wusste nicht recht, ob er sie zu seinesgleichen oder eher zu den Göttinnen rechnen sollte. Sie flachste mit ihrem Bruder herum wie ein Kind – und war gleichzeitig ungewöhnlich anmutig. Allein schon wie sie da auf dem Stuhl saß, mit einem Arm wedelte oder auf etwas deutete, wie sie ihr Kinn in die
Hand stützte – alles an ihr schien Tanz zu sein, jede ihrer Bewegungen war harmonisch. Doch ihre Grazie beeinträchtigte ihre Lebhaftigkeit in keiner Weise. Wie hypnotisiert verfolgte Harald ihr Mienenspiel. Sie hatte volle Lippen und ein breites, ein wenig schiefes Lächeln. Überhaupt war ihr ganzes Gesicht ein bisschen unregelmäßig – die Nase nicht ganz gerade, auch das Kinn nicht ganz ebenmäßig. Der Gesamteindruck war jedoch schlichtweg schön, ja, Karen war das schönste Mädchen, das Harald je gesehen hatte.
»Wär ganz gut, wenn du dir noch so was wie Schuhe anziehen würdest«, sagte Tik zu ihm.
Harald ging in sein Zimmer und zog sich fertig an. Als er zurückkam, sah Tik wie aus dem Ei gepellt aus – schwarzes Jackett, weißes Hemd und einfarbige dunkle Krawatte. Harald kam sich in seinem Blazer mehr denn je wie ein Schuljunge vor.
Karen ging vor ihnen die Treppe hinunter. Sie betraten ein langes, unaufgeräumtes Zimmer mit mehreren großen Sofas, einem Flügel und einem alten Hund, der auf einem Teppich vor dem offenen Kamin lag. Obwohl auch hier die Wände
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