Mitternachtsfalken: Roman
behalten.
Tik leerte sein Glas. »Zeit fürs Mittagessen!«
Sie kehrten zum Schloss zurück. Im Vorhof begegnete ihnen zu Haralds Überraschung Poul Kirke, der Vetter ihres Klassenkameraden Mats und Freund von Haralds Bruder Arne. Poul trug Shorts, und an der Ziegelmauer des Portals lehnte ein Fahrrad. Harald kannte Poul von mehreren Begegnungen. Während Tik bereits hineinging, blieb er stehen, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln.
»Arbeitest du hier?«, fragte Poul.
»Nein, ich bin nur auf Besuch. Wir haben ja noch Schule.«
»Der Bauer hier sucht Studenten für die Ernte. Was hast du denn in diesem Sommer vor?«
»Weiß ich noch nicht genau. Letztes Jahr konnte ich auf einer Baustelle auf Sande arbeiten.« Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Später hat sich herausgestellt, dass es der deutsche Stützpunkt war – nur hat man uns das erst hinterher verraten.«
»Ach so?« Poul schien das zu interessieren. »Was für ein Stützpunkt ist das denn?«
»So eine Art Funkstation, glaube ich. Bevor sie die Geräte installierten, haben sie alle Dänen entlassen. Diesen Sommer bekomme ich wahrscheinlich einen Job auf einem Fischerboot und werde mich schon ein bisschen auf das erste Semester an der Uni vorbereiten. Ich hoffe, dass ich einen Studienplatz in Physik bekomme, bei Niels Bohr.«
»Nicht schlecht! Mads hält dich schon lange für ein Genie.«
Harald wollte sich gerade erkundigen, was Poul nach Kirstenslot verschlagen hatte, als sich die Frage schlagartig erübrigte, denn um die Hausecke bog, ein Fahrrad schiebend, Karen.
Sie sah hinreißend aus in ihren Khaki-Shorts, die ihre langen Beine sehr vorteilhaft zur Geltung brachten.
»Guten Morgen, Harald«, sagte sie, ging zu Poul und küsste ihn. Neidvoll registrierte Harald, dass es ein Kuss auf die Lippen war – wenngleich nur ein kurzer. »Hallo«, sagte sie.
Harald war bestürzt. Er hatte fest damit gerechnet, Karen am Mittagstisch zu sehen und ein Stündchen mit ihr verbringen zu können. Aber sie hatte sich mit Poul, der offenbar ihr Freund war, zu einer Fahrradtour verabredet. Dabei war Poul zehn Jahre älter als sie! Zum ersten Mal fiel Harald auf, dass Poul ein sehr gut aussehender Mann mit ebenmäßigen Zügen war. Wenn er lächelte und seine perfekten Zähne zeigte, wirkte er wie ein Filmstar.
Poul nahm Karen bei den Händen und musterte sie von oben bis unten. »Du bist eine absolute Augenweide«, sagte er. »Ich hätte gerne ein Foto von dir in dieser Aufmachung.«
Sie lächelte huldvoll. »Vielen Dank, mein Herr!«
»Alles klar zur Abfahrt?«
»Alles klar.«
Die beiden bestiegen ihre Räder.
Harald drehte es schier den Magen um. Er sah zu, wie die beiden nebeneinander in Richtung Hauptstraße davonradelten, der Sonne entgegen. »Gute Fahrt!«, rief er ihnen nach.
Karen winkte, ohne sich noch einmal umzudrehen.
H ermia Mount drohte die Entlassung. So etwas war ihr noch nie passiert. Sie war intelligent und gewissenhaft, und alle ihre bisherigen Arbeitgeber hatten sie trotz ihrer scharfen Zunge stets für einen wahren Schatz gehalten. Herbert Woodie jedoch, ihr gegenwärtiger Chef, war drauf und dran, sie rauszuwerfen. Ihm fehlte nur noch der Mut, es ihr mitzuteilen.
Zwei dänische Mitarbeiter des MI6 waren auf dem Flughafen Ka- strup festgenommen worden. Sie befanden sich jetzt in Haft und wurden zweifellos verhört. Für das »Mitternachtsfalken«-Netz war das ein schwerer Schlag. Woodie war ein MI6-Mann aus Friedenszeiten – ein im Amt ergrauter Bürokrat. Er brauchte einen Sündenbock, und Hermia war genau die Richtige dafür.
Hermia verstand das sehr gut. Sie arbeitete nun schon seit zehn Jahren für den öffentlichen Dienst und wusste, wie er funktionierte. Wenn man Woodie zu dem Eingeständnis zwang, dass die Schuld an dem Vorfall in seiner Abteilung zu suchen war, so würde er sie auf jene Person schieben, die die wenigsten Dienstjahre auf dem Buckel hatte. Ohnehin war es ihm von Anfang an gegen den Strich gegangen, dass er mit einer Frau zusammenarbeiten musste; er hatte sie liebend gerne durch einen Mann ersetzt.
Im ersten Moment war Hermia sogar bereit gewesen, sich als Opferlamm anzubieten. Sie hatte die beiden Flugwarte nie kennen gelernt – die Männer waren von Poul Kirke angeworben worden -, doch das Spionagenetz in Dänemark war ihre Schöpfung, und sie trug die Verantwortung für das Schicksal der Verhafteten. Dass die beiden aufgeflogen waren, hatte sie dermaßen außer Fassung gebracht, als hätte sie
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