Mitternachtsfalken: Roman
Welt
gehalten hatte. Vorsichtig legte er das kleine Auto wieder in die Kiste.
Weiter hinten in einer Ecke stand ein einmotoriges Flugzeug ohne Flügel.
Harald betrachtete es voller Neugier. »Was ist denn das?«, fragte
er.
»Das ist eine so genannte Hornet Mouth von der englischen Firma de Havilland. Vater hat sie sich vor fünf Jahren gekauft, aber er hat nie gelernt, sie zu fliegen.«
»Seid ihr überhaupt schon mal damit geflogen?«
»Ja, sicher. Damals, als sie neu war. Das waren tolle Flüge.« Harald berührte den großen Propeller, der mindestens einen Meter achtzig maß. Die mathematische Präzision seiner Kurven machte ihn in seinen Augen zu einem Kunstwerk. Das Flugzeug stand leicht schief, und Harald sah, dass ein Reifen platt und das Fahrgestell beschädigt war.
Er betastete den Rumpf und stellte überrascht fest, dass er aus einer Art Stoff bestand, der über einen Rahmen gespannt war und hier und da kleine Unebenheiten und Fältchen aufwies. Die Maschine war hellblau gestrichen und hatte einen weiß eingefassten schwarzen Zier- streifen. Die einst sicherlich lebhaft bunte Farbe war inzwischen stumpf, verstaubt und ölverschmiert. Erst jetzt erkannte Harald, dass das Flugzeug doch Flügel hatte, silberne Doppeldeckerflügel sogar. Sie waren jedoch mit Scharnieren versehen und zurückgeklappt, sodass sie nach hinten zeigten.
Er warf einen Bück durch das Seitenfenster in die Kabine. Sie erinnerte sehr an die Frontpartie eines Autos und enthielt zwei Sitze nebeneinander sowie ein Instrumentenbrett aus lackiertem Holz mit einer Reihe von Skalen und Schaltern. Die Polsterung des einen Sitzes war aufgeplatzt, sodass die Füllung herausquoll. Es sah aus, als hätten Mäuse darin genistet.
Er fand die Klinke, öffnete die Tür und kletterte hinein, ohne sich an dem vernehmbaren Rascheln und Trippeln zu stören, und setzte sich auf den intakt gebliebenen Sitz. Was die Steuerelemente bedeuteten, Heß sich leicht erraten. In der Mitte befand sich ein Y-förmiger Steuerknüppel, der von beiden Sitzen aus bedient werden konnte.
Harald nahm ihn in die Hand und berührte mit den Füßen die Pedale. Fliegen muss noch toller sein als Motorradfahren, dachte er, sah sich wie ein Riesenvogel über dem Schloss kreisen und glaubte das Dröhnen des Motors zu hören.
»Bist du selber schon mal geflogen?«, fragte er Tik.
»Nein, aber Karen hat Flugstunden gehabt.«
»Tatsächlich?«
»Sie war noch nicht alt genug, um den Schein zu machen, aber sie hatte echt Talent.«
Harald bewegte den Steuerknüppel und das Ruder. Da waren ein paar Ein-Aus-Schalter, die er anknipste, ohne dass etwas geschah. Der Steuerknüppel und die Pedale ließen sich mühelos bewegen, als ob sie nirgendwo angeschlossen wären. Tik, der ihn beobachtete, sagte: »Einige Drähte und Kabel sind vergangenes Jahr ausgebaut worden. Sie wurden zur Reparatur einer landwirtschaftlichen Maschine gebraucht. Komm, lass uns gehen.« Harald hätte noch stundenlang an diesem Flugzeug herumspielen können, doch er spürte Tiks Ungeduld und kletterte wieder aus der Kabine.
Sie verließen das Kloster auf der Rückseite und folgten einer alten Wagenspur, die durch einen Wald führte. Zu Schloss Kirstenslot gehört, ein großer landwirtschaftlicher Betrieb. »Das Gut wurde schon vor meiner Geburt an die Familie Nielsen verpachtet«, sagte Tik. »Sie züchten Schweine und haben eine Milchviehherde, die einen Preis nach dem anderen gewinnt. Außerdem bauen sie auf ein paar Hundert Hektar Getreide an.«
Sie stiefelten um ein breites Weizenfeld herum, überquerten eine Weide, auf der eine Herde schwarzweißer Kühe graste, und konnten aus der Entfernung die Schweine riechen. Auf einer ungeteerten Straße, die zum Bauernhaus führte, stand ein Traktor mit Anhänger. Ein junger Mann im Overall besah sich den Motor. Tik schüttelte ihm die Hand und fragte: »Hallo, Frederik, ist was nicht in Ordnung?«
»Der Motor ist abgestorben, mitten auf der Straße. Ich wollte Herrn Nielsen und seine Familie mit dem Anhänger zur Kirche bringen.« Wie Harald erst jetzt bemerkte, waren auf dem Anhänger zwei Sitzbänke installiert. »Aber nun gehen die Erwachsenen zu Fuß, und die
Kinder sind wieder nach Hause gebracht worden.«
»Mein Freund Harald ist ein Genie, was Motoren betrifft, egal welche.«
»Meinetwegen kann er sich den hier gerne mal angucken.«
Der Traktor war ein modernes Fabrikat mit einem Dieselmotor und Gummireifen anstelle der früher üblichen
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