Mitternachtsfalken: Roman
schneller, ließen Westminster hinter sich und kamen nach Pimlico. Suchscheinwerfer durchschnitten die zerstreuten Wolken – und dann war auf einmal das Unheil verkündende, tiefe Dröhnen schwerer Flugzeuge zu hören; es klang wie das hungrige, kehlige Brüllen eines großen, wilden Tiers. Irgendwo krachte eine Flugabwehrrakete, und die Flak explodierte am Himmel wie ein Feuerwerk. Hermia fragte sich, ob ihre Mutter auch heute Nacht wieder mit ihrem Krankenwagen unterwegs war.
Und schon fielen zu Hermias Entsetzen die ersten Bomben – ganz in der Nähe, obwohl sich die Angriffe normalerweise auf die Industriegebiete im Osten Londons konzentrierten. Ein ohrenbetäubendes Krachen und Knirschen folgte, das aus der nächsten Querstraße zu kommen schien. Eine Minute später raste die Feuerwehr mit heulender Sirene an ihnen vorbei. Hermia ging jetzt, so schnell sie konnte.
»Sie sind so beherrscht«, sagte Hoare. »Haben Sie denn keine Angst?«
»Natürlich habe ich Angst«, erwiderte sie ungeduldig. »Ich verfalle bloß nicht gleich in Panik.«
Sie bogen um eine Straßenecke und sahen ein Haus, das in Flammen stand. Die Feuerwehr stand davor, und die Männer rollten die Schläuche aus.
»Wie weit ist es noch?«, fragte Hoare.
»In der nächsten Straße«, gab Hermia keuchend zurück.
An der nächsten Kreuzung sahen sie einen weiteren Feuerwehrwagen. Er stand ganz am Ende der Straße, in unmittelbarer Nähe von Mags‘ Haus. »O mein Gott!«, rief Hermia und fing an zu rennen. Das Herz schlug ihr vor Anstrengung und Angst bis zum Hals. Auch ein Krankenwagen stand vor der Häuserzeile, zu der das Haus ihrer Mutter gehörte und in die offenbar eine Bombe eingeschlagen hatte. »Nein.«, sagte sie laut. »Bitte, nicht.«
Beim Näherkommen merkte sie verblüfft, dass sie das Haus ihrer Mutter nicht ausmachen konnte, obwohl doch deutlich zu erkennen war, dass das Nachbarhaus in Flammen stand. Hermia blieb stehen, um das Bild zu begreifen, das sich ihren Augen bot. Erst nach einer Weile ging ihr auf, dass das Haus ihrer Mutter verschwunden war. Außer einem großen Spalt in der Terrasse und einem Haufen Schutt war nichts davon übrig geblieben. Verzweifelt stöhnte Hermia auf.
»War das das Haus?«, fragte Hoare.
Sie nickte und brachte kein Wort heraus.
Hoare wandte sich an einen Feuerwehrmann und sprach ihn mit befehlsgewohnter Stimme an: »He, Sie da! Was ist mit den Hausbewohnern? Wissen Sie, wo sie sind?«
»Yes, Sir«, antwortete der Mann. »Eine Person hat es voll erwischt.« Er deutete auf den kleinen Vorgarten des unbeschädigten Hauses gegenüber. Dort stand eine Bahre, auf der ein lebloser menschlicher Körper lag. Das Gesicht war mit einem Tuch bedeckt.
Hermia spürte, dass Hoare sie am Arm nahm. Gemeinsam betraten sie den Vorgarten.
Hermia kniete vor der Bahre nieder, und Hoare entblößte das Gesicht.
»Es ist Bets«, sagte Hermia, und von der Mischung aus Erleichterung und Schuldbewusstsein, die sie empfand, wurde ihr beinahe übel.
Hoare sah sich um. »Da vorn an der Mauer sitzt jemand. Wer ist das?«
Hermia blickte auf, und ihr Herz schlug höher: Es war ihre Mutter, in Sanitäteruniform und auf dem Kopf einen Stahlhelm. Sie hockte in sich zusammengesunken auf der niedrigen Gartenmauer und sah aus, als wäre alles Leben aus ihrem Körper gewichen.
»Mutter?«, sagte Hermia.
Mags blickte auf, und Hermia sah die Tränen, die ihr über das Gesicht strömten.
Sie ging zu ihr und schloss sie in die Arme.
»Bets ist tot«, sagte Mags.
»Es tut mir so Leid, Mutter.«
»Sie hat mich so sehr geliebt«, schluchzte ihre Mutter.
»Ich weiß.«
»Wirklich? Du weißt das? Sie hat ihr Leben lang auf mich gewartet. Ist dir das klar? Ihr Leben lang!«
Hermia drückte ihre Mutter an sich. »Es tut mir schrecklich Leid.«
Am Morgen des 9. April 1940, jenem Tag, an dem Hitler Dänemark überfiel, befanden sich ungefähr zweihundert dänische Schiffe auf hoher See. Den ganzen Tag über appellierte der dänisch sprachige Dienst der BBC an die Seeleute, nicht in die besetzte Heimat zurückzukehren, sondern alliierte Häfen anzulaufen. Insgesamt akzeptierten ungefähr fünftausend Mann das Asylangebot. Die meisten von ihnen suchten sich einen Liegeplatz in ostenglischen Häfen, hissten den Union Jack und fuhren für die gesamte Dauer des Krieges unter britischer Flagge wieder hinaus. Infolge dieser Ereignisse hatten sich bis um die Mitte des folgenden Jahres in einigen englischen Hafenstädten mehrere
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