Mitternachtsfalken: Roman
Shipwright‘s Arms Pub am Hafen. Sie brauchte nur ein paar Minuten, um sich umzuhören und zu erfahren, dass Sten Munch, ein dänischer Kapitän, den sie von ihrem letzten Aufenthalt her kannte, am nächsten Morgen mit seinem Trawler Morganmand – was so viel wie »Frühaufsteher« bedeutete – in See stechen wollte. Sie fand Sten vor seinem Haus auf dem Hügel; wie ein waschechter Engländer war er gerade dabei, die Hecke in seinem Vorgarten zu schneiden. Er bat sie herein.
Sten Munch war Witwer und lebte mit seinem Sohn Lars zusammen, der an jenem 9. April des Vorjahrs zufällig mit an Bord gewesen und inzwischen mit Carol, einem Mädchen aus dem Ort, verheiratet war. Als Hermia hereinkam, stillte Carol gerade ein wenige Tage altes Baby. Lars setzte Teewasser auf. Carol zuliebe sprachen sie alle Englisch.
Hermia erklärte, dass sie so nahe wie möglich an die dänische Küste herankommen musste, um einen deutschen Sender abzuhören. Um was für eine »Sendung« es sich handelte, ließ sie unerwähnt, und Sten stellte auch keine diesbezüglichen Fragen. »Aber selbstverständlich«, sagte er mit einer überschwänglichen Geste. »Wir müssen alles tun, um die Nazis zu besiegen! Nur. mein Boot ist dafür eigentlich nicht das richtige.«
»Warum nicht?«
»Es ist sehr klein – gerade mal zehn Meter lang -, und wir werden etwa drei Tage unterwegs sein.«
Damit hatte Hermia gerechnet. Woodie hatte sie erzählt, sie müsse ihrer Mutter helfen, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden, und könne daher erst irgendwann im Laufe der nächsten Woche wieder ins Büro kommen.
»Kein Problem für mich«, sagte sie zu Sten. »Ich habe Zeit.«
»Mein Boot hat nur drei Kojen. Wir schlafen im Schichtbetrieb. Für Damen ist das nicht geeignet. Sie sollten mit einem größeren Schiff fahren.«
»Kennen Sie eines, das morgen Früh ausläuft?«
Sten sah Lars an, und dieser antwortete: »Nein. Drei sind gestern raus und kommen erst nächste Woche zurück. Peter Gorning kommt morgen zurück und fährt frühestens am Mittwoch wieder raus.«
Hermia schüttelte den Kopf. »Nein, das ist zu spät.«
Carol blickte von ihrem Baby auf. »Die schlafen in ihren Klamotten, wissen Sie. Deshalb stinken sie so, wenn sie heimkommen. Der Gestank ist noch schlimmer als der Fischgeruch.«
Hermia gefiel, dass Carol kein Blatt vor den Mund nahm. »Mir macht das nichts aus«, sagte sie. »Ich kann ohne weiteres in meinen Klamotten schlafen, und wenn das Bett noch warm ist, bringt mich das auch nicht um.«
»Sie kennen mich doch«, sagte Sten, »und Sie wissen genau, dass ich Ihnen gerne behilflich wäre. Aber das Meer ist nichts für Frauen. Ihr seid für die feineren Dinge im Leben geschaffen.«
Carol schnaubte empört. »Zum Beispiel zum Kinderkriegen, was?«
Hermia grinste, dankbar für Carols Unterstützung. »Genau«, sagte sie. »Wir halten schon einiges aus.«
Carol nickte heftig. »Denkt doch mal dran, was Charlie in der Wüste alles durchmachen muss.« An Hermia gewandt fügte sie hinzu: »Mein Bruder Charlie ist in der Armee – irgendwo in Nordafrika.«
Sten fühlte sich offenbar überrumpelt. Er wollte Hermia nicht mitnehmen. Da er aber unbedingt patriotisch und tapfer erscheinen wollte, konnte er das nicht direkt sagen. »Wir laufen schon um drei Uhr früh aus«, sagte er.
»Ich werde rechtzeitig da sein«, erwiderte Hermia.
»Dann können Sie ebenso gut gleich hier bleiben«, erklärte Carol. »Wir haben noch ein freies Zimmer.« Sie sah ihren Schwiegervater an. »Das geht doch in Ordnung, Pa, oder?«
Sten fielen keine Ausreden mehr ein. »Aber selbstverständlich«, sagte er.
»Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte Hermia.
Sie gingen früh zu Bett. Hermia entkleidete sich nicht, sondern blieb bei Licht in ihrem Zimmer sitzen. Sie wollte unter keinen Umständen verschlafen, weil sie befürchtete, dass Sten dann ohne sie abfahren würde. Die Munchs waren keine großen Leser. Das einzige Buch, das sie fand, war eine dänische Bibel, doch die hielt sie jedenfalls wach. Um zwei Uhr schlich sich Hermia ins Badezimmer, wo sie sich schnell wusch, und dann auf Zehenspitzen die Treppe hinunter. In der Küche setzte sie den Wasserkessel auf den Herd. Sten erschien gegen halb drei. Überraschung und Enttäuschung mischten sich in seiner Miene, als er Hermia in der Küche vorfand, doch dann schenkte sie ihm eine große Tasse Tee ein, die er – immerhin – dankbar entgegennahm.
Ein paar Minuten vor drei schritten
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