Mitternachtsfalken: Roman
kleine dänische Gemeinden gebildet .
Hermia entschloss sich, nach Stokeby zu fahren, ein Fischerort, den sie schon zweimal besucht hatte, um mit den dort lebenden Dänen zu sprechen. Diesmal erzählte sie Herbert Woodie, ihrem Vorgesetzten, sie wolle dort ihre veralteten Karten der wichtigsten dänischen Häfen überprüfen und nötigenfalls ändern lassen.
Woodie glaubte ihr das.
Für Digby Hoare hatte sie sich eine andere Geschichte zurechtgelegt.
Zwei Tage, nachdem die Bombe das Haus von Hermias Mutter zerstört hatte, tauchte Hoare wieder in Bletchley auf. Er brachte einen Empfänger mit Richtungsanzeiger mit, fein säuberlich verpackt in einen gebraucht aussehenden braunen Lederkoffer. Während er ihr zeigte, wie man mit dem Gerät umging, musste Hermia an den Kuss im Park denken – mit schlechtem Gewissen, weil sie ihn so sehr genossen hatte. Wie soll ich Arne je wieder in die Augen schauen können, dachte sie, und es war ihr alles andere als wohl bei dem Gedanken.
Ihr ursprünglicher Plan hatte vorgesehen, den Empfänger nach Dänemark schmuggeln zu lassen und den Mitternachtsfalken zuzuspielen, doch dann war ihr etwas Einfacheres eingefallen. Die Signale aus der deutschen Radaranlage konnten wahrscheinlich auf See genauso leicht empfangen werden wie an Land. Daher erklärte sie Hoare, sie wolle den Koffer dem Kapitän eines Fischerboots übergeben und dem Mann zeigen, wie man das Gerät bediente. Hoare war einverstanden.
Der Plan hätte durchaus funktionieren können – wenn Hermia bereit gewesen wäre, eine so wichtige Aufgabe einem anderen zu überlassen. In Wirklichkeit hatte sie jedoch die Absicht, selbst hinauszufahren.
In der Nordsee zwischen Dänemark und England liegt die Doggerbank, eine riesige Sandbank, an der das Meer stellenweise nur fünfzehn Meter tief ist. Auch gibt es dort ergiebige Fischgründe. Sowohl dänische als auch englische Trawler warfen ihre Netze an der Doggerbank aus. Streng genommen war es den in Dänemark beheimateten Booten untersagt, so weit hinauszufahren, doch da Deutschland dringend Heringe brauchte, wurde das Verbot nur unregelmäßig überwacht und regelmäßig missachtet. Hermia hatte vor einiger Zeit erwogen, Botschaften über die Fischerboote auszutauschen, ja sogar Personen auf diesem Wege nach Dänemark einzuschleusen und wieder aus dem Land herauszuholen. Sie hätten lediglich auf hoher See von einem Boot ins andere umsteigen müssen. Von dieser Idee war sie allerdings wieder abgekommen. Das östliche Ende der Doggerbank lag nur etwa hundert Meilen von der dänischen Küste entfernt. Wenn sie mit ihren Vermutungen auch nur halbwegs Recht hatte, dann mussten die Radarsignale von Freya in den Fischgründen aufzufangen sein.
Am Freitagnachmittag bestieg sie den Zug. Sie trug seefeste Kleidung: Hosen, Stiefel und einen weiten Pullover. Ihr Haar hatte sie hochgesteckt und unter einer karierten Männermütze verborgen. Während der Zug durch die flachen Marschen Ostenglands rollte, grübelte sie darüber nach, ob ihr Plan funktionieren würde. Es war schon fraglich, ob sich überhaupt ein Kapitän finden würde, der bereit war, sie mitzunehmen. Und kein Mensch vermochte zu sagen, ob die erhofften Signale auch tatsächlich empfangen werden konnten. Im schlimmsten Falle war das ganze Unternehmen nichts als Zeitverschwendung.
Nach einer Weile wandten sich ihre Gedanken Mags zu. Ihre Mutter hatte die gestrige Beerdigung Bets‘ mit Fassung überstanden und eher stille Trauer als abgrundtiefen Schmerz gezeigt. Heute war sie nach Cornwall gefahren, wo sie bei ihrer Schwester Bella – Hermias Tante – unterkommen konnte. Doch in der Bombennacht hatte ihre Seele bloßgelegen. Da war deutlich geworden, dass die beiden Frauen mehr verband als eine enge, herzliche Freundschaft. Hermia wollte eigentlich nicht genauer darüber nachdenken, was da noch im Spiel gewesen sein mochte, konnte ihre einmal geweckte Neugier aber nicht einfach abstellen. Auch wenn sie die peinliche Vorstellung einer möglichen körperlichen Beziehung zwischen den beiden beiseiteschob, blieb doch der schockierende Gedanke daran, dass ihre Mutter eine 118 lebenslange leidenschaftliche Zuneigung über all die Jahre hinweg nicht nur gepflegt, sondern sowohl vor ihrer Tochter als auch aller Wahrscheinlichkeit nach vor deren Vater, ihrem Ehemann, sorgfältig verborgen hatte.
Gegen acht Uhr fuhr der Zug im Bahnhof von Stokeby ein. Es war ein milder Sommerabend, und Hermia begab sich ohne Umwege ins
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