Mitternachtsfalken: Roman
auf sich und wartete ungeduldig auf den ersten Auftrag. Natürlich hatte er auch Angst, bemühte sich aber, nicht daran zu denken, was mit ihm geschehen würde, wenn man ihn erwischen sollte.
Dass Poul mit Karen Duchwitz befreundet war, trug Harald ihm immer noch nach. Jedes Mal, wenn er daran dachte, spürte er tief in seinem Magen das bittersüße Gefühl der Eifersucht, aber er unterdrückte es um des Erfolgs der Widerstandsbewegung willen.
Er wünschte sich, Karen wäre jetzt bei ihnen. Die Musik hätte ihr gefallen.
Gerade, als er insgeheim das Fehlen weiblicher Gesellschaft bedauerte, fiel ihm ein Gast ins Auge, den er bisher noch nicht gesehen hatte: eine Frau im roten Kleid, mit dunklem, gelocktem Haar. Er konnte sie nicht gut erkennen – die Luft war zu verraucht oder irgendetwas stimmte nicht mit seinen Augen, es war alles so verschwommen. Auf jeden Fall schien sie ohne Begleitung zu sein. »He, schaut mal da drüben!«, sagte er zu den anderen.
»Nicht unnett, wenn du auf Ältere stehst«, sagte Mads.
Harald starrte die Frau an und bemühte sich um klare Sicht. »Wieso? Für wie alt hältst du sie denn?«
»Die ist doch mindestens schon dreißig.«
Harald zuckte mit den Schultern. »Das ist doch noch nicht richtig alt. Ich frage mich, ob sie sich nicht gerne mit jemandem unterhalten möchte.«
Tik, der noch nicht so betrunken war wie die anderen beiden, sagte: »Die unterhält sich bestimmt mit dir.«
Harald begriff nicht, warum Tik grinste wie ein Idiot. Er achtete nicht weiter darauf, sondern stand auf und ging zur Bar. Beim Näherkommen bemerkte er, dass die Frau ziemlich dick und ihr rundliches Gesicht stark geschminkt war. »Hallo, Schuljunge!«, sagte sie, lächelte ihn dabei aber freundlich an.
»Ich habe gesehen, dass Sie allein sind.«
»Ja, vorübergehend.«
»Ich dachte, dass Sie sich vielleicht gerne mit jemandem unterhalten wollen.«
»Nein, deswegen bin ich eigentlich nicht hier.«
»Ach so – Sie hören lieber die Musik. Ich bin ein großer Jazzfan, schon seit Jahren. Was halten Sie von der Sängerin? Sie ist natürlich keine Amerikanerin, aber.«
»Ich hasse die Musik.«
Das war nun allerdings verblüffend. »Aber warum.«
»Ich arbeite hier.«
Anscheinend glaubte sie, damit alles erklärt zu haben, doch Harald hatte keine Ahnung, was sie meinte. Immer noch lächelte sie ihn herzlich an, aber er spürte irgendwie, dass sie aneinander vorbeiredeten. »Sie arbeiten hier.«, wiederholte er.
»Ja, was dachtest du denn?«
Er wollte ihr ein Kompliment machen und sagte daher: »Für mich sehen Sie aus wie eine Prinzessin.«
Sie lachte.
»Wie heißen Sie?«, fragte Harald.
»Betsy.«
Das war kein typischer Name für eine junge Dänin aus der Arbeiterklasse. Wahrscheinlich nennt sie sich nur so, dachte Harald.
Plötzlich tauchte ein Mann auf, der ihm gerade bis zum Ellbogen reichte. Harald fühlte sich abgestoßen von seinem Aussehen: Er war unrasiert, hatte faulige Zähne, und sein eines Auge war von einer großen Schwellung halb geschlossen. Der Mann trug einen fleckigen Smoking und ein kragenloses Hemd. Obwohl er klein und dünn war, wirkte er Furcht erregend. »Komm schon, mein Kleiner, entscheide dich, ja?«
»Das ist Luther«, sagte Betsy zu Harald und wandte sich an den Mann: »Lass den Jungen in Ruhe, Lou, der stellt nichts an.«
»Der vertreibt uns bloß die Kundschaft«, sagte Luther.
Harald merkte, dass er keine Ahnung hatte, was hier eigentlich vorging, und gestand sich ein, dass er offenbar stärker betrunken war,
als er geglaubt hatte.
»Also – willst du sie nun vögeln oder nicht?«, fragte ihn Luther.
Das war die Höhe. »Ich kenne sie doch gar nicht!«, erwiderte Harald.
Betsy prustete los vor Lachen.
»Zehn Kronen«, sagte Luther. »Du kannst gleich bei mir bezahlen.«
Jetzt endlich fiel der Groschen. Harald wandte sich Betsy zu und sagte mit vor Überraschung lauter Stimme: »Sind Sie eine Prostituierte?«
»Ja, ja, schon gut«, sagte sie gereizt, »aber schrei nicht so rum.«
Luther packte Harald an der Hemdbrust und zog ihn an sich heran. Sein Griff war fest, und Harald stolperte. »Ich kenne euch Klugscheißer«, fauchte Luther. »Ihr findet das immer furchtbar komisch.«
Harald konnte den üblen Atem des Mannes riechen. »Regen Sie sich nicht auf«, sagte er. »Ich wollte mich doch bloß mit ihr unterhalten.«
Ein Barmann mit einem Tuch um den Kopf beugte sich über den Tresen und sagte: »Keinen Ärger, bitte, Lou. Der Junge ist
Weitere Kostenlose Bücher