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Mitternachtsfalken: Roman

Titel: Mitternachtsfalken: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Bursche!«
    Harald gehorchte.
    Um neun Uhr hängte Sejr das Geöffnet-Schild in die Tür und sagte zu Harald: »Wenn ich will, dass du einen Kunden bedienst, sage ich: ›Vortreten!‹, und dann trittst du vor und sagst zu dem Kunden: ›Guten Morgen, womit kann ich Ihnen dienen?‹ Aber wart erst einmal ab und pass auf, wie ich die ersten ein oder zwei Kunden bediene.«
    Harald sah zu, wie Sejr ein Kärtchen mit sechs Nadeln an eine alte Frau verkaufte, die ihre Münzen so vorsichtig und umstandskrämerisch auf die Ladentheke zählte, als wären es Goldstücke. Die nächste Kundin war eine schick gekleidete Vierzigerin, die zwei Meter schwarze Borte kaufte.
    Die dritte Kundin musste Harald bedienen. Es war eine dünnlippige Frau, die ihm irgendwie bekannt vorkam. Sie wünschte eine Rolle weißes Wollgarn.
    »Links! Oberste Schublade!«, kommandierte Sejr.
    Harald fand das Garn. Der Preis stand, mit Bleistift geschrieben, am einen Ende der Holzrolle. Harald kassierte und gab der Kundin das Wechselgeld heraus.
    Plötzlich sagte die Kundin: »So, so, Harald Olufsen, was man nicht alles so hört! Da hat er sich also an den Fleischtöpfen Babylons gelabt.«
    Harald errötete. Darauf war er nicht vorbereitet. Wusste schon die ganze Stadt Bescheid? Nein, gegen das Geschwätz von Klatschweibern wollte er sich nicht verteidigen. Er schwieg.
    »Der junge Herr wird bei mir hier einem besseren Einfluss ausgesetzt, Frau Jensen«, sagte Sejr.
    »Das wird ihm bestimmt gut tun.«
    Harald entging nicht, dass die beiden seine Demütigung sichtlich genossen. »Wünschen Sie noch etwas?«, fragte er die Kundin.
    »O nein, danke«, erwiderte Frau Jensen, machte jedoch keine Anstalten, den Laden zu verlassen. »Dann wirst du also nicht auf die
    Universität gehen?«
    Harald wandte sich ab und sagte: »Wo ist bitte die Toilette, Herr Sejr?«
    »Hinten raus und dann die Treppe hoch.«
    Im Weggehen hörte er Sejr noch in bedauerndem Ton sagen: »Das ist ihm natürlich alles sehr peinlich.«
    »Das wundert mich nicht«, sagte Frau Jensen.
    Harald stieg die Treppe hinauf zur Wohnung, die direkt über dem Laden lag. Frau Sejr stand in einem rosafarbenen gesteppten Morgenrock am Spülstein und wusch das Frühstücksgeschirr. »Zum Mittagessen habe ich nur ein paar Heringe«, sagte sie. »Ich hoffe, du isst nicht viel.«
    Er ließ sich im Bad Zeit und war, als er in den Laden zurückkehrte, heilfroh, dass Frau Jensen inzwischen gegangen war. »Die Leute sind nun einmal neugierig«, sagte Sejr. »Du musst stets höflich zu ihnen sein, egal, was sie sagen.«
    »Mein Leben geht Frau Jensen nichts an«, sagte Harald wütend.
    »Aber sie ist eine Kundin, und der Kunde hat immer Recht.«
    Der Vormittag verging unendlich langsam. Sejr überprüfte die Lagerbestände, schrieb Bestellungen, kümmerte sich um seine Buchhaltung und beantwortete Telefonanrufe. Von Harald wurde erwartet, dass er immer für den jeweils nächsten Kunden, der den Laden betrat, bereitstand. Das gab ihm viel Zeit zum Nachdenken. Soll ich wirklich den Rest meines Lebens damit verbringen, irgendwelchen Hausfrauen Wollgarn zu verkaufen, fragte er sich. Das war einfach undenkbar.
    Als Frau Sejr am späteren Vormittag ihm und ihrem Mann eine Tasse Tee brachte, hatte er seine Entscheidung bereits getroffen: Hier würde er es nicht einmal bis zum Ende des Sommers aushalten.
    Zur Mittagspause stand für ihn fest: Er würde nicht einmal bis zum Ende dieses Tages bleiben.
    Als Sejr das »Geschlossen«-Schild aushängte, sagte Harald: »Ich mach einen kleinen Spaziergang.«
    »Aber meine Frau hat uns etwas zu essen gemacht«, erwiderte Sejr empört.
    »Sie hat mir gesagt, dass es nicht reicht.« Harald öffnete die Tür.
    »In einer Stunde bist du wieder da!«, rief Sejr ihm nach. »Komm ja nicht zu spät!«
    Harald ging zum Strand hinunter, nahm die Fähre nach Sande und trat den Rückweg zum Pfarrhaus an. Er sah die Dünen, die vielen Kilometer feuchten Sands, das grenzenlose Meer und verspürte eine eigenartige, beklemmende Spannung in der Brust. Der Anblick war ihm so vertraut wie sein eigenes Spiegelbild – und doch rief er in ihm nun ein schmerzliches Verlustgefühl hervor. Ihm war zum Heulen zumute – und nach einer Weile wusste er auch, warum.
    Noch heute würde er seine Heimat verlassen.
    Die Begründung folgte der Entdeckung: Nein, die Arbeit, die man für ihn ausgesucht hatte, musste er nicht verrichten. Doch wenn er sich weigerte und sich damit gegen seinen Vater auflehnte,

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