Mitternachtsfalken: Roman
über sich ergehen lassen, so wie sie alles, was mit ihr geschah, ohne sichtbare Regung hinnahm. Aber Flemming brachte es einfach nicht über sich. Einmal, ziemlich bald nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus, hatte er es versucht, hatte sich eingeredet, dass er dadurch das Bewusstsein in ihr vielleicht wieder entzünden könne. Aber schon damals empfand er sein Tun als abstoßend und ließ nach ein paar Sekunden von seinem Vorhaben ab.
Jetzt kehrte das Begehren zurück, und er musste sich dagegen wehren, obwohl er wusste, dass auch dann, wenn er ihm nachgab, keine Linderung zu erwarten war.
Mit einer ärgerlichen Geste warf er ihre Unterwäsche in den Wäschekorb. Inge rührte sich nicht, als er eine Schublade öffnete und ein mit Blümchen besticktes weißes Baumwollnachthemd hervorholte, ein Geschenk seiner Mutter. Inge wirkte so unschuldig in ihrer Nacktheit; sie zu begehren kam ihm ebenso verwerflich vor wie ein Kind zu begehren. Er zog ihr das Hemd über den Kopf, führte ihre Arme durch die Ärmel und strich es über ihrem Rücken glatt. Dann blickte er über ihre Schulter hinweg in den Spiegel. Das Blümchenmuster stand ihr gut; sie sah ausgesprochen hübsch aus. Ihm war, als zeichne sich ein schwaches Lächeln auf ihren Lippen ab, doch wahrscheinlich spielte ihm bloß seine Einbildung einen Streich.
Er führte Inge ins Badezimmer und brachte sie danach zu Bett. Beim Ausziehen betrachtete er seinen eigenen Körper im Spiegel. Eine lange Narbe quer über dem Bauch erinnerte an eine SamstagabendSchlägerei, die er als junger Polizist einst geschlichtet hatte. Er verfügte nicht mehr über die sportliche Konstitution seiner Jugend, war aber immer noch fit und fragte sich, wie lange es dauern würde, bis wieder einmal eine Frau seine Haut mit hungrigen Händen berührte.
Er zog sich seinen Pyjama an, fühlte sich aber nicht müde und entschloss sich wenig später, ins Wohnzimmer zu gehen und noch eine Zigarette zu rauchen. Sein Blick fiel auf Inge. Sie lag still da, doch ihre
Augen waren noch offen. Wenn sie sich rührte, würde er sie hören. Im Allgemeinen kannte er ihre Bedürfnisse. Wenn sie etwas wollte, stand sie einfach auf und wartete, als könne sie sich nicht entscheiden, was sie als Nächstes tun wolle. Es lag dann an ihm, es herauszufinden: ein Glas Wasser vielleicht, oder sie musste auf die Toilette; vielleicht war ihr kalt und sie brauchte einen Schal. Manchmal waren ihre Wünsche nicht so leicht zu erraten. Es kam vor, dass sie durch die Wohnung ging, ziellos, wie es den Anschein hatte, aber dann blieb sie bald irgendwo stehen, vielleicht an einem Fenster, vielleicht mitten im Zimmer, oder sie starrte hilflos eine geschlossene Tür an.
Peter Flemming verließ das Schlafzimmer und ging durch den kleinen Flur ins Wohnzimmer, bewusst beide Türen offen lassend. Er suchte und fand seine Zigaretten, griff spontan nach einer halb vollen Flasche Aquavit, die in einem Schrank stand, und schenkte sich ein Glas ein. Rauchend und hin und wieder am Aquavit nippend, dachte er über die vergangene Woche nach.
Sie hatte gut begonnen und schlecht geendet. Anfang der Woche war es ihm gelungen, zwei Spione zu erwischen, Ingemar Gammel und Poul Kirke. Besser noch: Sie waren von anderem Kaliber als die Leute, mit denen er sich sonst abgeben musste – Gewerkschaftsführer, die Streikbrechern Bange machten, und Kommunisten, die in verschlüsselten Botschaften nach Moskau meldeten, dass Jütland reif für die Revolution sei. Nein, Gammel und Kirke waren echte Spione, und die Zeichnungen, die Tilde Jespersen in Kirkes Büro gefunden hatte, stellten wichtiges militärisches Nachrichtenmaterial dar.
Peter Flemmings Stern schien aufzugehen. Einige seiner Kollegen verhielten sich inzwischen auffallend distanziert; sie waren nicht damit einverstanden, dass er mit großer Begeisterung den deutschen Besatzern zuarbeitete. Aber das war nebensächlich. General Braun hatte ihn angerufen und ihm mitgeteilt, er würde es begrüßen, wenn er, Flemming, die Leitung des Sicherheitsdezernats übernähme. Was in diesem Fall mit Frederik Juel geschehen würde, hatte Braun offen gelassen. Fest stand, dass Flemming dessen Posten bekommen würde, wenn er den aktuellen Fall zu einem erfolgreichen Abschluss brachte.
Es war jammerschade, dass Poul Kirke nicht mehr lebte. Von ihm hätte man erfahren können, wer seine Komplizen waren, woher er seine Befehle bezog und auf welchen Wegen er die Briten mit Informationen versorgte. Gammel
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