Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
vergaß sie deren Sprache anscheinend oder weigerte sich, noch etwas mit ihnen zu tun zu haben. Von Vögeln lernte sie singen, von Katzen lernte sie eine gefährliche Form von Unabhängigkeit. Nie wurde das Messingäffchen so wütend, wie wenn jemand liebevoll mit ihr sprach: Nach Zuneigung hungernd, die ihr durch meinen übermächtigen Schatten vorenthalten wurde, neigte sie dazu, sich gegen jeden zu wenden, der ihr gab, was sie wollte, als verteidigte sie sich gegen die Möglichkeit, betrogen zu werden.
... So beispielsweise, als Sonny Ibrahim all seinen Mut zusammennahm, um ihr zu sagen: «He, hör mal, Saleems Schwester – du bist ’ne tolle Type. Ich, ähm, weißt du, ich bin ganz schön scharf auf dich ...» Und auf der Stelle marschierte sie hinüber zum Garten von Sans Souci, wo seine Mutter und sein Vater Lassi schlürften, und sagte: «Tante Nussie, ich weiß nicht, was euer Sonny die ganze
Zeit im Schilde führt. Gerade eben erst habe ich ihn und Cyrus hinter einem Busch gesehen, wie sie ganz komische Sachen mit ihren Pipimännchen gemacht haben!» ...
Das Messingäffchen hatte schlechte Tischmanieren; sie trampelte über Blumenbeete; sie bekam das Etikett «Problemkind», aber sie und ich waren ein Herz und eine Seele, trotz der eingerahmten Briefe aus Delhi und des Sadhus unter dem Wasserhahn. Von Anfang an beschloss ich, sie als Verbündete zu behandeln, nicht als Konkurrentin, und als Ergebnis warf sie mir kein einziges Mal meine Vorherrschaft in unserem Haushalt vor, sondern sagte: «Was gibt es da denn vorzuwerfen? Ist es deine Schuld, dass sie denken, du seist so großartig?» (Aber als ich Jahre später den gleichen Fehler beging wie Sonny, behandelte sie mich ebenso.)
Und es war das Äffchen, das einen Falsch-verbunden-Anruf beantwortete und so die Ereigniskette in Gang setzte, die zu einem Vorfall in einer weißen Wäschetruhe aus Holzlatten führte.
Schon im Alter von fast neun wusste ich das eine: Jedermann wartete auf mich. Mitternacht und Babyschnappschüsse, Propheten und Ministerpräsidenten hatten um mich herum einen glühenden und unentrinnbaren Nebel der Erwartung geschaffen ... in dem mein Vater mich in der Kühle der Cocktailstunde an seinen weichen Bauch zog und sagte: «Große Dinge! Mein Sohn: was hast du nicht alles vor dir! Große Taten, ein großes Leben!» Während ich mich zwischen hervorspringender Lippe und großem Zeh wand, sein Hemd mit meinem ewig auslaufenden Nasenschleim nässte, purpurrot anlief und kreischte: «Lass mich los, Abba. Jeder sieht’s !» Und er posaunte hinaus und brachte mich damit über alle Maßen in Verlegenheit: «Sollen sie doch zusehen! Soll die ganze Welt sehen, wie ich meinen Sohn liebe!» ... und meine Großmutter, die uns eines Winters besuchte, erteilte mir ebenfalls Ratschläge: «Spuck nur ordentlich in die Hände, wieheißtesnoch, und du wirst besser sein als alle anderen auf der ganzen Welt!» ... Hilflos in diesem Dunst
der Erwartung treibend, spürte ich schon damals die ersten Regungen dieses gestaltlosen Tieres in mir, das an diesen Abenden ohne Padma noch immer in meinem Magen rumort und kratzt: Verflucht von einer Vielzahl von Hoffnungen und Kosenamen (Schnüffler und Rotznase hatte ich schon erhalten), bekam ich Angst, dass alle sich irrten – dass meine so oft hinausposaunte Existenz sich als absolut nutzlos, nichtig, sinnlos erweisen könnte. Und um diesem wilden Tier zu entkommen, gewöhnte ich mir schon in einem frühen Alter an, mich in der großen weißen Wäschetruhe meiner Mutter zu verstecken; denn obwohl die Kreatur in mir war, schien die tröstliche Anwesenheit einhüllender schmutziger Wäsche mich in den Schlaf zu lullen.
Außerhalb der Wäschetruhe, umgeben von Menschen, die ein niederschmetternd klares Zielbewusstsein zu besitzen schienen, vergrub ich mich in Märchen. Hatim Tai und Batman, Superman und Sindbad halfen mir, die fast neun Jahre durchzustehen. Wenn ich mit Mary Pereira einkaufen ging – überwältigt von ihrer Fähigkeit, das Alter eines Hähnchens durch einen Blick auf seinen Hals zu bestimmen, von der puren Entschlusskraft, mit der sie toten Pomfrets ins Auge starrte –, wurde ich Aladdin auf der Reise durch eine märchenhafte Höhle; wenn ich Dienstboten dabei beobachtete, wie sie Vasen mit einer Hingabe abstaubten, die ebenso majestätisch wie unerklärlich war, stellte ich mir vor, dass Ali Babas vierzig Räuber sich in den abgestaubten Vasen verbargen; wenn ich im Garten
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