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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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führst du im Schilde? Schmutzfink! Du bist mir ein sauberer Schmutzfink!» Ich sah schläfrig, unschuldig, verstört aus. Er brüllte weiter: «Tsts, tsts! Schmutzig! Gott bestraft Jungen, die das tun! Er hat deine Nase schon so groß wie eine Pappel gemacht. Er lässt dich nicht mehr wachsen, er lässt dein Pipimännchen schrumpfen!» Und meine Mutter, die im Nachthemd in das aufgeschreckte Zimmer kam: «Janum, um Himmels willen, der Junge hat doch nur geschlafen!» Durch die Lippen meines Vaters brüllte der Dschinn, hatte ihn vollkommen in der Gewalt. «Sieh dir sein Gesicht an! Hat schon je einer so eine Nase vom Schlafen bekommen? »
    In einer Wäschetruhe gibt es keine Spiegel; weder unanständige Witze noch deutende Finger gelangen hinein. Die Wut der Väter wird durch benutzte Betttücher und abgelegte Büstenhalter gedämpft. Eine Wäschetruhe ist ein Loch in der Welt, ein Ort, den die Zivilisation außerhalb ihrer selbst gestellt hat, jenseits des Erlaubten; das macht sie zum besten aller Verstecke. In der Wäschetruhe war ich, wie Nadir Khan in seiner Unterwelt, sicher vor jedem Druck, den Forderungen von Eltern und Geschichte entzogen.
    ... Meinem Vater, der mich an seinen weichen Bauch zog und mit einer Stimme, die von momentaner Rührung erstickt war, sagte:«Schon gut, schon gut, ja, ja, bist ein guter Junge; du kannst alles sein, was du willst, du musst es nur genug wollen! Schlaf jetzt ...» Und Mary Pereira, die seine Worte mit ihrem kleinen Vers wiederholte:«Alles, was du sein willst, kannst du sein. Du kannst alles sein, was du willst!» Mir war bereits aufgefallen, dass unsere Familie stillschweigend an gute Geschäftsprinzipien glaubte; sie erwartete eine ansehnliche Gegenleistung für ihre Investition in mich. Kinder bekommen Essen Obdach Taschengeld große Ferien Liebe, dem Anschein nach alles frei und umsonst, und die meisten der kleinen Narren glauben, es sei eine Art Entschädigung dafür, dass sie geboren worden sind. «There are no strings on me!», singen sie;
aber ich, Pinocchio, habe die Fäden gesehen. Eltern werden vom Motiv des Profits getrieben – nicht mehr und nicht weniger. Für ihre Zuwendungen erwarteten sie von mir die immense Dividende der Größe. Missverstehen Sie mich nicht. Es hat mir nichts ausgemacht. Ich war zu der Zeit ein pflichtbewusstes Kind. Ich sehnte mich danach, ihnen zu geben, was sie wollten, was Wahrsager und gerahmte Briefe ihnen versprochen hatten; ich wusste nur nicht, wie. Wo kam Größe her? Wie bekam man welche? Wann?  ... Als ich sieben Jahre alt war, kamen Aadam Aziz und Ehrwürdige Mutter zu uns zu Besuch. An meinem siebten Geburtstag ließ ich mich gehorsam herausputzen wie die Jungen auf dem Bild mit dem Fischer; schwitzend und beklommen in dem fremdländischen Gewand, lächelte ich immerzu. «Seht nur, meine kleine Scheibevom-Mond! », rief Amina, während sie einen Kuchen anschnitt, der mit kandierten Bauernhoftieren belegt war. «So süüß. Vergießt nie auch nur eine einzige Träne!» Ich drängte die Tränenfluten zurück, die sich direkt hinter meinen Augen sammelten, weil mir heiß war, weil ich mich unbehaglich fühlte, weil es in meinem ganzen Stapel von Geschenken keine einzige Ein-Meter-Schokolade gab, und brachte Ehrwürdiger Mutter, die krank im Bett lag, ein Stück Kuchen. Man hatte mir ein Stethoskop geschenkt; es hing mir um den Hals. Sie gab mir die Erlaubnis, sie zu untersuchen; ich verschrieb mehr Bewegung. «Du musst durch das Zimmer gehen, einmal am Tag zum Schrank und zurück. Du darfst dich auf mich stützen; ich bin der Arzt.» Der mit einem Stethoskop ausgestattete Mylord geleitete die Großmutter mit den Hexenmuttermalen durchs Zimmer; humpelnd und knarrend gehorchte sie. Nachdem sie drei Monate lang so behandelt worden war, erholte sie sich vollständig. Die Nachbarn kamen, um zu feiern, und brachten Rasgullas und Gulab-Jamans und andere Süßigkeiten mit. Ehrwürdige Mutter, die königlich auf einem Takht im Wohnzimmer thronte, verkündete:«Seht ihr meinen Enkel? Er hat mich geheilt, wieheißtesnoch. Ein Genie! Genialität, wieheißtesnoch, ist eine Gabe Gottes.» War
es also das? Sollte ich aufhören, mir Sorgen zu machen? Stand Genialität in keinerlei Zusammenhang mit wollen oder lernen wie oder Bescheid wissen über oder fähig sein zu? War sie etwas, was sich zur vorbestimmten Stunde wie ein makelloser, schön gewirkter Schal aus feinster Wolle auf meine Schultern herabsenken würde? Größe als

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