Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Schaapsteker, fast zweiundachtzig, mit aus den Mundwinkeln schnellender Zunge: «Verdünntes Gift der Königskobra. Es hat Fälle gegeben, bei denen es funktioniert hat.»
Schlangen können zum Triumph führen, genauso wie man Leitern herunterfallen kann: mein Großvater verabreichte mir das Kobragift, weil er wusste, dass ich sowieso sterben würde. Die Familie stand daneben und sah zu, wie das Gift sich im Körper des Kindes verteilte ... und sechs Stunden später war meine Temperatur wieder
normal. Danach verlor meine Wachstumsrate ihr phänomenales Ausmaß, aber als Ersatz für das Verlorene wurde etwas anderes gegeben: Leben und ein frühes Bewusstsein von der Doppeldeutigkeit von Schlangen.
Während meine Temperatur fiel, wurde in Dr. Narlikars Entbindungsheim meine Schwester geboren. Es war der I. September, und die Geburt verlief so mühelos, dass sie auf Methwold’s Estate praktisch unbeachtet hingenommen wurde, denn am selben Tag besuchte Ismail Ibrahim meine Eltern in der Klinik und verkündete, dass der Prozess gewonnen sei ... Während Ismail feierte, umklammerte ich die Stäbe meines Bettchens; während er rief. «Damit wären die Einfrierungen erledigt! Ihre Aktiva sind wieder die Ihren! Auf Befehl des Hohen Gerichts!», kämpfte ich mit rotem Gesicht gegen die Schwerkraft; und während Ismail mit unbewegter Miene sagte: «Sinai Bhai, das Recht hat triumphiert» und dabei dem entzückten, triumphierenden Blick meiner Mutter auswich, zog ich, Baby Saleem, genau ein Jahr, zwei Wochen und einen Tag alt, mich in meinem Bettchen hoch, bis ich aufrecht stand.
Die Ereignisse dieses Tages wirkten sich zweifach aus: Ich wuchs mit unwiderruflich krummen Beinen auf, weil ich zu früh auf die Füße gekommen war, und das Messingäffchen (so genannt wegen ihres dicken Schopfes rotgoldenen Haars, das erst dunkel wurde, als sie neun war) lernte, dass sie viel Krach schlagen musste, wenn sie in ihrem Leben ein wenig Beachtung bekommen wollte.
Vorfall in einer Wäschetruhe
Zwei ganze Tage ist es her, seit Padma aus meinem Leben gestürmt ist. Ihren Platz an dem Kessel mit Mangokasaundi nimmt seit zwei Tagen eine andere Frau ein – ebenfalls mit breiter Taille, ebenfalls mit behaartem Unterarm, aber in meinen Augen überhaupt kein Ersatz! –, während mein Dunglotos ich weiß nicht wohin verschwunden ist. Ein Gleichgewicht ist durcheinander gebracht worden, ich spüre, wie sich an meinem ganzen Körper Risse auftun, denn plötzlich bin ich allein, ohne das mir notwendige Ohr, und das ist nicht genug. Ich werde von einem plötzlichen Wutanfall ergriffen: Warum sollte ich von meinem einzigen Anhänger so unvernünftig behandelt werden? Andere Männer vor mir haben Geschichten vorgetragen, andere wurden nicht so Hals über Kopf verlassen. Als Valmiki, der Dichter des Ramayana, dem elefantenköpfigen Ganesch sein Meisterwerk diktierte, lief ihm da der Gott mittendrin weg? Sicherlich nicht. (Man beachte, dass ich trotz meiner moslemischen Abstammung zur Genüge Bombayer bin, um mich in Hindu-Geschichten gut auszukennen, und das Bild des rüsselnasigen, flatterohrigen Ganesch, der feierlich nach Diktat schreibt, ist mir sogar sehr lieb.)
Wie soll ich ohne Padma auskommen? Wie auf ihre Unwissenheit und ihren Aberglauben verzichten, notwendige Gegengewichte zu meiner wunderbeladenen Allwissenheit? Wie ohne ihren paradoxen, fest in der Erde verankerten Geist zurechtkommen, der meine Füße auf dem Boden hält – hielt? Mir scheint, ich bin zur Spitze eines gleichschenkligen Dreiecks geworden, das zu gleichen Teilen von Zwillingsgottheiten getragen wird, dem wilden Gott der Erinnerung und der Lotosgöttin der Gegenwart ... aber muss ich
mich nun mit der schmalen Eindimensionalität einer geraden Linie abfinden?
Vielleicht verstecke ich mich hinter all diesen Fragen. Ja, das stimmt vielleicht. Ich sollte offen sprechen, ohne den Deckmantel eines Fragezeichens: Unsere Padma ist weg, und ich vermisse sie. Ja, das ist es.
Aber immer noch gibt es genug zu tun, zum Beispiel:
Im Sommer 1956, als die meisten Dinge auf der Welt noch größer waren als ich, entwickelte meine Schwester, das Messingäffchen, die seltsame Angewohnheit, Schuhe in Brand zu stecken. Während Nasser vor Suez Schiffe versenkte und so den Lauf der Welt verlangsamte, indem er sie zwang, um das Kap der Guten Hoffnung zu fahren, versuchte meine Schwester ebenfalls, unseren Fortschritt zu hemmen. Gezwungen, um Aufmerksamkeit zu kämpfen, besessen von
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