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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Gauner. Heutzutage ist überall was faul.»
    ... Und dann wird die Stille der Nacht wie Milch getrennt durch einen einzigen, abgerissenen Schrei; jemand torkelt von innen gegen die Tür des Uhrturms; sie wird aufgerissen; es gibt einen Krach, und etwas schießt wie der Blitz auf die schwarze Dachpappe hinaus. Inspektor Vakeel wirft sich in Aktion, sein Gewehr wirbelnd, schießt er wie John Wayne aus der Hüfte; Straßenfeger ziehen Waffen aus ihren Besen und ballern los ... Geschrei aufgeregter Frauen, Geheul von Dienstboten ... Stille.
    Was liegt braun und schwarz, gebändert und gekrümmt auf der schwarzen Dachpappe? Was verströmt schwarzes Blut und bewegt Dr. Schaapsteker dazu, von seinem Ausguck im obersten Stockwerk laut zu kreischen: «Ihr Vollidioten! Ihr Wanzenbrüder! Transvestitenbrut! »... Was stirbt züngelzungig, während Vakeel auf das Teerdach stürzt?
    Und im Uhrturm? Was für ein Gewicht hat im Fallen so ein allmächtiges Getöse verursacht? Wessen Hand riss eine Tür auf, in wessen Ferse sind die beiden rot ausfließenden Löcher zu sehen,
gefüllt mit einem Gift, für das kein Gegengift bekannt ist, einem Gift, das ganze Ställe voller Schindmähren umgebracht hat? Wessen Leichnam wird von Polizisten in Zivil aus dem Turm getragen, in einem Leichenzug ohne Sarg, mit falschen Straßenkehrern, die ihm das Geleit geben? Warum fällt Mary Pereira, als das Mondlicht auf das tote Gesicht fällt, in einem plötzlichen und dramatischen Ohnmachtsanfall wie ein Kartoffelsack zu Boden, mit Augen, die sich in den Höhlen nach oben verdrehen?
    Und was sind das für seltsame Vorrichtungen, angeschlossen an billige Zeitmesser, die die Innenwände des Uhrturms säumen? Warum stehen da so viele Flaschen, deren Hälse mit Lumpen verstopft sind? «Verdammtes Glück gehabt, Begum Sahiba, dass Sie meine Jungs gerufen haben», sagt Inspektor Vakeel. «Das war Joseph D’Costa – stand ganz oben auf unserer Fahndungsliste. Bin schon ein Jahr oder so hinter ihm her. Durch und durch bösartiger Schurke. Sie sollten einmal die Wände in dem Uhrturm da sehen! Regale, die vom Boden bis zur Decke mit selbst gebastelten Bomben gefüllt sind. Genug Sprengstoff, um diesen ganzen Hügel ins Meer zu jagen!»

    Melodrama auf Melodrama, das Leben nimmt die Färbung eines Bombayer Schmachtfetzens an; Schlangen folgen Leitern, Leitern folgen Schlangen; inmitten von zu viel Geschehnis wurde Baby Saleem krank. Als sei es unfähig, so viele Vorgänge aufzunehmen, schloss es die Augen und wurde rot und fiebrig. Während Amina die Resultate von Ismails Prozess gegen die Staatsbehörden erwartete, während das Messingäffchen in ihrem Leib wuchs, während Mary in einen Dauerschock verfiel, von dem sie sich erst dann völlig erholte, als Josephs Geist zurückkehrte, um sie heimzusuchen, während die Nabelschnur im Picklesglas hing und Marys Chutneys unsere Träume mit deutenden Fingern füllten, während Ehrwürdige
Mutter die Herrschaft in der Küche innehatte, untersuchte mich mein Großvater und sagte: «Es besteht wohl kein Zweifel: der arme Junge hat Typhus.»
    «O Gott im Himmel», rief Ehrwürdige Mutter aus, «welcher schwarze Teufel, wieheißtesnoch, ist bloß gekommen, um sich auf diesem Haus niederzulassen?»
    So habe ich die Geschichte von der Krankheit gehört, die meinem Leben beinahe ein Ende bereitet hätte, bevor es überhaupt angefangen hatte: Tag und Nacht sahen Ende August 1948 Mutter und Großvater nach mir; Mary raffte sich auf, verdrängte zeitweilig ihre Schuldgefühle und drückte mir kalte Flanelllappen auf die Stirn; Ehrwürdige Mutter sang Wiegenlieder und löffelte mir Essen in den Mund; selbst mein Vater vergaß vorübergehend seine eigene Unpässlichkeit und stand hilflos flatternd in der Tür. Aber dann kam die Nacht, in der Doktor Aziz, der so klapprig wie ein altes Pferd aussah, sagte: «Mehr kann ich nicht tun. Bis zum Morgen wird er tot sein.» Und inmitten der jammernden Frauen und der beginnenden Wehen meiner Mutter, die der Kummer vorzeitig ausgelöst hatte, und des Haareraufens von Mary Pereira klopfte es; ein Diener kündigte Dr. Schaapsteker an, der meinem Großvater eine kleine Flasche überreichte und sagte: «Ich will Ihnen nichts vormachen: Entweder bringt es ihn um, oder es rettet ihm das Leben. Genau zwei Tropfen, dann abwarten.»
    Mein Großvater, der mit in die Hände gestütztem Kopf inmitten der Trümmer seiner medizinischen Gelehrsamkeit saß, fragte: «Was ist es?» Und Dr.

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