Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
aufgetaucht war, um einmal mehr auf den Unsinn mit den Tetrapoden zu verfallen ... «Wo findet ihr ihn?», flehte ich inständig, an meinem Fenster stehend; der Finger des Fischers deutete irreführend aufs Meer hinaus.
    Aus Wäschetruhen verbannt: Schreie wie «Pinocchio! Gurkennase! Rotzgesicht!» In meinem Versteck verborgen, war ich vor der Erinnerung an Fräulein Kapadia sicher, die Lehrerin in der Breach-Candy-Vorschule, die sich an meinem ersten Tag dort von der Tafel abgewandt hatte, um mich zu begrüßen, meine Nase gesehen und in einem gellenden, jedoch geringfügigen Echo des berühmten Missgeschicks meines Vaters erschrocken ihren Staubwedel fallen gelassen hatte, der den Nagel ihres großen Zehs zertrümmerte; begraben zwischen schmutzigen Schnupftüchern und zerknüllten Pajamas konnte ich für eine Weile meine Hässlichkeit vergessen.
    Typhus befiel mich, Kobragift heilte mich, und meine anfänglich überhitzte Wachstumsrate verlangsamte sich. Zu der Zeit, als ich fastneun war, war Sonny Ibrahim drei Zentimeter größer als ich. Aber ein Teil von Baby Saleem schien immun gegen Krankheit und Schlangengiftextrakt zu sein. Zwischen meinen Augen schoss es wie ein Pilz nach vorn und nach unten, als hätten alle meine expandierenden Kräfte, aus dem Rest meines Körpers vertrieben, beschlossen, sich auf diesen einzigen, unvergleichlichen Vorstoß zu konzentrieren ... zwischen meinen Augen und oberhalb meiner Lippen blühte meine Nase wie ein preisgekrönter Eierkürbis. (Aber immerhin blieben mir Weisheitszähne erspart; man sollte versuchen, mit seinen Pfunden zu wuchern.)
    Was ist in einer Nase? Die übliche Antwort: «Das ist einfach. Ein Atmungsapparat, Riechorgane, Haare.» Aber in meinem Fall war die Antwort noch einfacher, wenn auch, muss ich gestehen, recht abstoßend: In meiner Nase war Rotz. Ich bitte vielmals um Entschuldigung, muss aber auf Einzelheiten bestehen: Verstopfung der Nase zwang mich, durch den Mund zu atmen, sodass ich aussah wie ein nach Luft schnappender Goldfisch; eine beständige Blockierung verdammte mich zu einer Kindheit ohne Wohlgerüche, zu einem Leben, das von Moschus- und Jasmindüften und dem Geruch von Mangokasaundi und selbst gemachtem Eis und auch schmutziger Wäsche nichts wusste. Eine Behinderung in der Welt
außerhalb von Wäschetruhen kann ein Vorteil sein, wenn man darin ist. Aber nur für die Dauer des Aufenthalts.
    Besessen von der Frage nach dem Zweck machte ich mir Sorgen wegen meiner Nase. Gekleidet in die bitteren Kleidungsstücke, die regelmäßig von meiner Rektorentante Alia eintrafen, ging ich zur Schule, spielte Kinderkricket, kämpfte, betrat die Welt der Märchen ... und machte mir Sorgen. (In jenen Tagen hatte meine Tante Alia begonnen, uns eine Flut von Kinderkleidern zu schicken, in deren Säume sie ihre altjüngferliche Verdrießlichkeit eingenäht hatte. Das Messingäffchen und ich wurden in ihre Geschenke gekleidet, trugen zuerst die Babysachen der Bitterkeit, dann die Spielanzüge des Ressentiments; ich wuchs in weißen Shorts auf, die mit Eifersucht gestärkt waren, während das Äffchen die hübschen geblümten Hängerchen aus Alias ungetrübtem Neid trug ... ohne zu ahnen, dass unsere Garderobe uns mit den Netzen ihrer Rache umgarnte, führten wir unser wohlgekleidetes Leben.) Meine Nase: Elefantengleich wie der Rüssel Ganeschs, hätte sie, meinte ich, ein unübertreffliches Atmungsorgan sein müssen, ein Riecher, der nicht seinesgleichen hatte, wie wir sagen; stattdessen war sie dauernd verstopft und so nutzlos wie ein Schischkebab aus Holz.
    Genug. Ich saß in der Wäschetruhe und vergaß meine Nase, vergaß die Besteigung des Mount Everest im Jahre 1953 – als das schmuddelige Schlitzauge kicherte: «He, Jungs! Meint ihr, dass Tensing Schnüfflers Gesicht hochklettern könnte?» – und die Streitigkeiten meiner Eltern über meine Nase, für die Ahmed Sinai unablässig Aminas Vater verantwortlich machte: «Nie zuvor hat es in meiner Familie so eine Nase gegeben! Wir haben ausgezeichnete Nasen, stolze Nasen, königliche Nasen, Frau!» Zu der Zeit hatte Ahmed Sinai bereits begonnen, an die erdichteten Vorfahren zu glauben, die er William Methwold zuliebe geschaffen hatte; durchtränkt von Dschinns, sah er Mogul-Blut in seinen Adern fließen ... Vergessen war auch die Nacht, als ich achteinhalb war und mein Vater, dessen Atem nach Dschinns roch, in mein Zimmer
kam, um mir die Bettdecke wegzureißen und gebieterisch zu fragen: «Was

Weitere Kostenlose Bücher