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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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dem Bedürfnis, sich in den Mittelpunkt aller, selbst unangenehmer Ereignisse zu stellen (sie war schließlich meine Schwester; doch keine Ministerpräsidenten schrieben ihr Briefe, keine Sadhus beobachteten sie von ihren Plätzen unter Wasserhähnen im Garten aus; nicht vorhergesagt, nicht fotografiert, war ihr Leben von Anfang an ein Kampf), trug sie ihren Krieg in die Welt der Fußbekleidung, vielleicht weil sie hoffte, sie zwinge uns, wenn sie unsere Schuhe verbrannte, lange genug stillzustehen, damit wir bemerken konnten, dass sie da war ... sie machte jedenfalls keinen Versuch, ihre Verbrechen zu verbergen. Als mein Vater sein Zimmer betrat und ein Paar schwarzer Halbschuhe in Flammen fand, stand meine Schwester mit dem Streichholz in der Hand darüber gebeugt. Seine Nase wurde von dem unnachahmlichen Geruch angezündeten Stiefelleders, vermischt mit Kirschblüten-Stiefelpolitur und ein wenig Drei-in-einem-Öl, überfallen ... «Sieh nur, Abba», sagte das Äffchen betörend, «sieh nur, wie schön, genau dieselbe Farbe wie mein Haar!»
    Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen trieb die muntere rote Blume der Besessenheit meiner Schwester in jenem Sommer auf dem ganzen
Anwesen Blüten, blühte in den Sandalen von Nussie-der-Ente und der Filmmagnaten-Fußbekleidung von Homi Catrack; haarfarbene Flammen leckten an Herrn Dubashs Wildlederschuhen mit den heruntergetretenen Absätzen und an Lila Sabarmatis Stöckelschuhen. Obwohl die Streichhölzer versteckt und die Dienstboten stets wachsam waren, fand das Messingäffchen immer einen Weg und ließ sich auch durch Strafen und Drohungen nicht abschrecken. Ein Jahr lang wurde Methwold’s Estate immer wieder vom Qualm in Brand gesteckter Schuhe attackiert, bis ihr Haar zu einem anonymen Braun nachdunkelte und sie das Interesse an Streichhölzern zu verlieren schien.
    Amina Sinai, der die Vorstellung, ihre Kinder zu schlagen, ein Gräuel war und die vom Temperament her nicht in der Lage war, ihre Stimme zu erheben, war mit ihrem Latein beinahe zu Ende, und das Äffchen wurde Tag um Tag zum Schweigen verurteilt. Das war die bevorzugte disziplinarische Maßnahme meiner Mutter: Unfähig, uns zu schlagen, befahl sie uns, die Lippen zu versiegeln. Zweifellos klang in ihren Ohren noch ein Echo der großen Stille nach, mit der ihre eigene Mutter Aadam Aziz gequält hatte – denn auch Stille hat ein Echo, dumpfer und länger anhaltend als der Nachhall jeglichen Klangs –, und mit einem nachdrücklichen «Chup!» legte sie den Finger auf die Lippen und befahl unseren Zungen zu schweigen. Diese Strafe schüchterte mich jedes Mal so unfehlbar ein, dass ich mich unterwarf; das Messingäffchen jedoch war aus weniger weichem Holz geschnitzt. Lautlos, hinter Lippen, die so fest zusammengepresst waren wie die ihrer Großmutter, plante sie die Lederverbrennung – genauso wie vor langer Zeit einst ein anderer Affe in einer anderen Stadt eine Tat ausgeführt hatte, die unweigerlich dazu führte, dass ein Halblederlager abgebrannt wurde.
    Sie war so schön (wenn auch etwas dürr), wie ich hässlich war, aber sie war von Anfang an so unberechenbar wie ein Wirbelwind und machte Krach wie eine große Menschenmenge. Zählen Sie die Fenster und Vasen, die mit Absicht ohne Absicht zerbrochen wurden;
rechnen Sie, wenn Sie können, die Mahlzeiten zusammen, die irgendwie von ihren heimtückischen Esstellern flogen und Flecken auf wertvolle Perserteppiche machten! Schweigen war in der Tat die schlimmste Strafe, die man ihr auferlegen konnte, aber sie ertrug sie heiter, stand unschuldig inmitten der Trümmer zerbrochener Stühle und zerschlagener Ziergegenstände.
    Mary Pereira sagte: «Dieses Kind! Dieses Äffchen! Es hätte mit vier Beinen geboren werden sollen!» Aber Amina, in deren Gedächtnis sich hartnäckig die Erinnerung hielt, dass sie um ein Haar einen Sohn mit zwei Köpfen geboren hätte, schrie: «Mary! Was sagst du da? Untersteh dich, so etwas auch nur zu denken!» ... Obwohl meine Mutter widersprach, stimmte es doch, dass das Messingäffchen ebenso sehr Tier wie Mensch war, und wie alle Dienstboten und Kinder auf Methwold’s Estate wussten, hatte sie die Gabe, mit Vögeln und Katzen zu sprechen. Auch mit Hunden: Aber nachdem sie im Alter von sechs Jahren von einem angeblich tollwütigen streunenden Hund gebissen worden war und um sich tretend und schreiend drei Wochen lang jeden Nachmittag ins Breach-Candy-Krankenhaus gezerrt werden musste, um eine Spritze in den Bauch zu bekommen,

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