Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Purushottam den Sadhu anblickte, der von Wasser ausgewaschen wurde, verwandelte ich mich in den Geist der Lampe; und auf diese Weise umging ich fast immer die schreckliche Vorstellung, dass ich als Einziger im Universum keine Ahnung hatte, was ich sein oder wie ich mich benehmen sollte. Zweck: Er schlich sich hinter mir heran, wenn ich dastand und von meinem Fenster aus die europäischen Mädchen betrachtete, die in dem landkartenförmigen Schwimmbecken am Meer herumtollten. «Wo kriegt ihr ihn her?», jaulte ich laut auf; das Messingäffchen, das mein himmelblaues
Zimmer teilte, sprang halb aus seiner Haut. Ich war damals fastacht; sie war beinahsieben. Ich fing sehr früh damit an, mich von der Sinnfrage verwirren zu lassen.
Aber aus Wäschetruhen sind Dienstboten ausgeschlossen, und auch Schulbusse fehlen. In meinem fastneunten Jahr besuchte ich schon die Cathedral and John Connon High School für Jungen an der Outram Road in der Gegend des alten Forts; gewaschen und gekämmt stand ich jeden Morgen am Fuß unseres zweigeschossigen Hügelchens, trug weiße Shorts mit einem blau-weiß gestreiften Elastikgürtel mit Schlangenschnalle, Ranzen über der Schulter, und meine mächtige Gurkennase tröpfelte wie gewöhnlich. Schlitzauge und Haaröl, Sonny Ibrahim und der frühreife Cyrus-der-Große warteten ebenfalls. Und was herrschten im Bus, inmitten von rappelnden Sitzen und nostalgischen Sprüngen in den Scheiben, für Gewissheiten! Welche fastneun Jahre alten Gewissheiten, die Zukunft betreffend! Sonnys Prahlereien: «Ich werde Stierkämpfer! Spanien! Chiquitas! He, toro, toro!» Er hielt seinen Ranzen vor sich wie Manolete die Muleta und spielte seine Zukunft vor, während der Bus um Kemp’s Corner ratterte, vorbei an Thomas Kemp und Co. (Drogerie), unter dem Radscha-Plakat von Air-India («See you later, alligator! Ich bin unterwegs nach London mit Air-India!») und der anderen Reklametafel, auf der während meiner ganzen Kindheit das Kolynos-Kind, ein Kobold mit schimmernden Zähnen und einer grünen, elfenhaften Chlorophyllkappe, die Vorzüge von Kolynos-Zahnpasta anpries: «Hält Zähne weiß, hält Zähne rein! Glanz kommt mit Kolynos ganz von allein!» Das Kind auf der Reklametafel, die Kinder im Bus: Eindimensional, von Gewissheit breitgeschlagen, wussten sie, wozu sie bestimmt waren. Hier ist Glandy Keith Colaco, ein schilddrüsenkranker Ballon von einem Kind, dem auf der Oberlippe schon das Haar in Büscheln sprießt: «Ich werde die Kinos meines Vaters übernehmen; wenn ihr Ferkel euch Filme ansehen wollt, dann müsst ihr kommen und mich auf Knien um Plätze anbetteln!» ... Und Fat Perce Fishwala,
dessen Dickleibigkeit nur aufs Überfressen zurückzuführen ist und der zusammen mit Glandy Keith die privilegierte Stellung des Klassentyrannen einnimmt: «Pah! Was ist das schon! Ich werde Diamanten und Smaragde und Mondsteine haben! Perlen, so groß wie meine Eier!» Der Vater von Fat Percy besitzt das andere Juweliergeschäft der Stadt; sein großer Feind ist der Sohn von Herrn Fatbhoy, der, da er klein und intellektuell ist, im Krieg der Kinder mit Perlenhoden schlecht abschneidet ... Und Schlitzauge kündigt seine Zukunft als Kricketspieler in der Nationalmannschaft an, unter vornehmer Nichtbeachtung seiner einen leeren Augenhöhle, und Haaröl, der so geschniegelt und akkurat ist wie sein Bruder krausköpfig und zerzaust, sagt: «Was seid ihr für egoistische Kerle! Ich werde wie mein Vater zur Marine gehen; ich werde mein Land verteidigen!» Worauf er mit Linealen, Kompassen, in Tinte getauchten Kügelchen bombardiert wird ... im Schulbus hielt ich den Mund, während er Chowpatty Beach hinunterratterte, an der Wohnung meines Lieblingsonkels Hanif vom Marine Drive nach links abbog, am Victoria-Bahnhof vorbei auf den Flora-Brunnen zuhielt, am Churchgate-Bahnhof und am Crawford-Markt vorbeifuhr; ich war der sanftmütige Clark Kent und behielt meine wahre Identität für mich; aber was in aller Welt war das? «He, Rotznase!», brüllte Glandy Keith. «He, was, meint ihr, wird denn mal aus unserem Schnüffler?» Und der Antwortruf von Fat Perce Fishwala: «Pinocchio! »Und der Rest fällt ein und singt heiser im Chor: «There are no strings on me!» ..., während Cyrus-der-Große ruhig wie ein Genie dasitzt und die Zukunft des führenden Atomforschungsinstituts der Nation plant.
Und zu Hause waren das Messingäffchen mit ihren Schuhbränden und mein Vater, der nur aus den Tiefen seines Zusammenbruchs
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