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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Muschel, während das Äffchen Aufträge für Lastwagen entgegennahm. Ich überlegte: «He, Äffchen, was meinst du? Ob der Kerl sich nicht manchmal wundert, warum die Lastwagen nie ankommen?» Und sie, mit großen Augen und flattriger Stimme: «Mann, glaubst du etwa ... vielleicht tun sie es ja!»
    Aber ich konnte mir nicht vorstellen, wie, und ein winziger Keim des Verdachts schlug Wurzeln in mir, ein winziger Schimmer einer Ahnung, dass unsere Mutter ein Geheimnis haben könnte – unsere Amma! Die immer sagte: «Habt bloß keine Geheimnisse, denn sie werden schlecht in euch; wenn ihr etwas nicht erzählt, macht es euch Magenschmerzen» – ein winziger Funken, den mein Erlebnis in der Wäschetruhe zu einem Waldbrand entfachen sollte. (Denn diesmal, wissen Sie, lieferte sie mir den Beweis.)
    Und nun ist es endlich Zeit für schmutzige Wäsche. Mary Pereira erzählte mir immer gern: «Wenn du ein großer Mann sein willst, Baba, musst du sehr sauber sein. Wechsle die Kleider», riet sie mir, «bade regelmäßig. Geh, Baba, sonst schick’ ich dich zum Wäscher, und er walkt dich auf seinem Stein durch.» Auch mit Ungeziefer drohte sie mir: «Meinetwegen, bleib eben schmutzig, dann hat dich niemand lieb außer den Fliegen. Sie bleiben auf dir
sitzen, wenn du schläfst; Eier legen sie unter deine Haut.» Zum Teil war die Wahl meines Verstecks eine Trotzhandlung. Wischern und Stubenfliegen die Stirn bietend, verbarg ich mich an dem unreinen Ort; aus Bettlaken und Handtüchern schöpfte ich Kraft und Trost; ungehemmt lief meine Nase in Wäsche, die dazu verurteilt war, auf Steinen geschlagen zu werden, und immer, wenn ich aus meinem hölzernen Wal wieder auftauchte in die Welt, umgab mich noch die traurig-reife Weisheit schmutziger Wäsche und lehrte mich ihre Philosophie der Kühle und Würde-trotz-allem und der schrecklichen Unausweichlichkeit von Seife.
    Eines Nachmittags im Juni trippelte ich auf Zehenspitzen durch die Flure des schlafenden Hauses zu meinem auserwählten Refugium, stahl mich an meiner schlafenden Mutter vorbei in die weiß gekachelte Stille ihres Badezimmers, hob, an meinem Ziel angelangt, den Deckel und ließ mich in die weiche Unendlichkeit von (vornehmlich weißen) Textilien fallen, deren einzige Erinnerungen nur meinen früheren Besuchen galten. Leise seufzend zog ich den Deckel zu und ließ Unterhosen und Unterhemden das Leid, lebendig, überflüssig und beinah neun Jahre alt zu sein, wegmassieren.
    Elektrizität liegt in der Luft. Hitze summt wie Bienen. Ein Mantel, der irgendwo am Himmel hängt, wartet darauf, mir sanft über die Schultern zu fallen ... irgendwo greift ein Finger in eine Wählscheibe, eine Wählscheibe schwirrt rundundrund, elektrische Impulse schießen durch ein Kabel, sieben, null, fünf, sechs, eins. Das Telefon klingelt. Gedämpftes Schrillen der Klingel dringt in die Wäschetruhe, in der ein fastneunjähriger Junge unbequem verborgen liegt ... Ich, Saleem, wurde steif vor Angst, Angst vor Entdeckung, denn nun drangen noch mehr Geräusche in die Truhe: Quietschen von Bettfedern, leises Trappeln von Pantoffeln über den Flur, das Telefon mitten im Klingeln zum Schweigen gebracht und – oder ist das Einbildung? war ihre Stimme so leise, dass ich sie gar nicht hörte? – die Worte, wie üblich zu spät gesprochen: «Tut mir Leid. Falsch verbunden.»
    Und nun kehren humpelnde Schritte ins Schlafzimmer zurück, und die schlimmsten Ängste des Jungen im Versteck bewahrheiten sich. Türknäufe, die sich drehen, schreien ihm Warnungen zu, rasierklingenscharfe Schritte dringen tief in ihn ein, während sie sich über die kühlen weißen Fliesen bewegen. Er bleibt zu Eis erstarrt, stockstill, seine Nase tröpfelt stumm in schmutzige Kleidung. Eine Pajamakordel – schlangengleicher Unglücksbote! – schiebt sich in sein linkes Nasenloch. Schniefen hieße sterben; er weigert sich, darüber nachzudenken.
    ... Im Zugriff des Schreckens wie in einem Schraubstock eingespannt, merkt er, wie sein Auge durch eine Ritze in der Wäschetruhe blickt ... und sieht eine Frau in einem Badezimmer weinen. Regen tropft aus einer dicken schwarzen Wolke. Und nun mehr Geräusche, mehr Bewegung: Die Stimme seiner Mutter hat zu sprechen begonnen, zwei Silben, immer wieder, und ihre Hände haben angefangen, sich zu bewegen. Von Unterwäsche eingemummelte Ohren bemühen sich, die Geräusche zu verstehen – das eine: Dir? Bir? Dil? – und das andere: Ha? Ra? Nein – Na. Ha und Ra sind

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