Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
herabfallender Mantel: Nie würde man ihn zur Wäscherei schicken müssen. Genialität schlägt man nicht auf einem Stein ... Dieser eine Hinweis, dieser eine zufällige Satz meiner Großmutter war meine einzige Hoffnung; und wie sich herausstellte, hatte sie gar nicht so Unrecht. (Der Vorfall rückt näher, und die Kinder der Mitternacht warten.)
    Jahre später in Pakistan, an jenem Abend, an dem ihr das Dach auf den Kopf fallen und sie platter als einen Reispfannkuchen zerquetschen sollte, sah Amina Sinai die alte Wäschetruhe in einer Vision. Als sie hinter ihren Augenlidern emporstieg, begrüßte sie sie wie eine nicht besonders gern gesehene Cousine. «Du bist’s also wieder», sagte sie zu ihr. «Na ja, warum auch nicht? Zur Zeit fallen mir laufend wieder Dinge ein. Scheint so, als ob man einfach nichts zurücklassen kann.» Wie alle Frauen in unserer Familie war sie vorzeitig alt geworden; die Truhe erinnerte sie an das Jahr, in dem das Alter angefangen hatte, über sie zu kommen. Die große Hitze von 1956 – die, wie Mary Pereira mir erzählte, durch kleine glühende unsichtbare Insekten verursacht worden war – summte wieder in ihren Ohren. «Damals haben meine Warzen angefangen, mir das Leben zur Hölle zu machen», sagte sie laut, und der Beamte des Zivilschutzes, der vorgesprochen hatte, um die Verdunklung durchzusetzen, lächelte traurig und dachte bei sich: Alte Leute hüllen sich während eines Kriegs in der Vergangenheit ein wie in einem Leichentuch; so sind sie immer bereit zu sterben, wenn es nötig ist. Er schlich sich davon, vorbei an den Bergen von Frotteehandtüchern mit kleinen Fehlern, die den größten Teil des Hauses füllten, und überließ es Amina, ihre schmutzige Wäsche für sich allein zu erörtern ... Nussie Ibrahim – Nussie-die-Ente – bewunderte Amina
stets: «Was du für eine Haltung hast, meine Liebe! Welche Anmut! Ich schwöre, es kommt mir vor wie ein Wunder: Du gleitest einher, als ständest du auf einem unsichtbaren Roller !» Aber in dem Sommer der Hitzetierchen verlor meine elegante Mutter endlich ihren Kampf gegen die Warzen, weil der Sadhu Purushottam plötzlich seine Zauberkraft verlor. Wasser hatte eine kahle Stelle in sein Haar gewaschen, das stetige Tröpfeln der Jahre hatte ihn verschlissen. War er von seinem gesegneten Kind, seinem Mubarak, enttäuscht? War es meine Schuld, dass seine Mantras ihre Kraft verloren? Augenscheinlich höchst beunruhigt, sagte er zu meiner Mutter: «Es hat nichts zu sagen, warten Sie nur, ich kriege Ihre Füße bestimmt hin.» Aber Aminas Warzen wurden schlimmer; sie ging zu Ärzten, die sie mit Kohlensäure auf dem absoluten Gefrierpunkt vereisten, aber dadurch vermehrten sie sich nur noch, sodass sie zu humpeln begann und es mit ihrer Anmut für immer vorbei war, und sie erkannte den unmissverständlichen Gruß des Alters. (Zum Bersten voll mit Phantasiegebilden, verwandelte ich sie in ein feenhaftes Wesen –«Amma, vielleicht bist du in Wirklichkeit eine Meerjungfrau, die aus Liebe zu einem Mann Menschengestalt angenommen hat – deshalb ist dir bei jedem Schritt, als gingest du auf Rasierklingen! »Meine Mutter lächelte, lachte aber nicht.)
    1956. Ahmed Sinai und Dr. Narlikar spielten Schach und diskutierten  – mein Vater war ein erbitterter Gegner Nassers, während Narlikar ihn offen bewunderte. «Der Mann ist schlecht fürs Geschäft», sagte Ahmed. «Aber er hat Stil», erwiderte Narlikar leidenschaftlich erglüht. «Er lässt sich von niemand herumschubsen.» Zur gleichen Zeit befragte Jawaharlal Nehru Astrologen zum Fünfjahresplan des Landes, um ein weiteres Karamstan zu verhindern, und während die Welt Aggression mit Okkultem vereinte, lag ich verborgen in einer Wäschetruhe, die eigentlich nicht mehr groß genug war, um bequem zu sein, und Amina Sinai wurde von Schuld erfüllt.
    Sie versuchte mittlerweile, ihr Abenteuer auf der Rennbahn aus
ihren Gedanken zu verdrängen, aber dem Gefühl der Sünde, das das Kochen ihrer Mutter ihr eingeflößt hatte, konnte sie nicht entkommen; deshalb fiel es ihr nicht schwer, die Warzen als Strafe zu betrachten ... nicht nur für die Jahre zurückliegende Eskapade in Mahalaxmi, sondern auch, weil es ihr nicht gelungen war, ihren Mann vor den rosa Zettelchen des Alkoholismus zu retten; als Strafe für die ungezügelte, unweibliche Art des Messingäffchens und für die Größe der Nase ihres einzigen Sohnes. Wenn ich sie mir nun in Erinnerung rufe, kommt es mir vor, als habe

Weitere Kostenlose Bücher