Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
ein Nebel der Schuld sich um ihren Kopf zu bilden begonnen – ihre schwarze Haut schwitzte schwarze Wolken aus, die vor ihren Augen hingen. (Padma würde es glauben, Padma würde wissen, was ich meine!) Und so, wie ihre Schuld wuchs, wurde auch der Nebel dichter – ja, warum nicht? –, und es gab Tage, an denen man kaum den Kopf auf ihrem Hals sehen konnte! ... Amina war einer jener seltenen Menschen geworden, die die Bürden der Welt auf die eigenen Schultern nehmen; sie begann, die magnetische Anziehungskraft der willfährig Schuldigen auszustrahlen, und von da an empfanden alle, die mit ihr in Berührung kamen, den unerhört starken Drang, ihre eigene private Schuld zu beichten. Wenn sie den Kräften meiner Mutter erlagen, lächelte sie sie mit einem lieblichen traurigen umnebelten Lächeln an, und sie gingen erleichtert weg und ließen ihre Bürden auf ihren Schultern zurück, und der Nebel der Schuld verdichtete sich. Amina hörte von Dienstboten, die geschlagen, und von Beamten, die bestochen wurden; wenn mein Onkel Hanif und seine Frau, die göttliche Pia, zu Besuch kamen, berichteten sie bis ins Kleinste von ihren Auseinandersetzungen; Lila Sabarmati vertraute ihre Ehebrüche dem taktvollen, langmütigen, geneigten Ohr meiner Mutter an; und Mary Pereira musste ständig gegen die beinahe unwiderstehliche Versuchung ankämpfen, ihr Verbrechen zu gestehen.
    Mit der Schuld der Welt konfrontiert, lächelte meine Mutter benebelt und schloss fest die Augen; und zu der Zeit, als ihr das Dach
auf den Kopf fiel, war ihr Sehvermögen stark beeinträchtigt; aber die Wäschetruhe konnte sie noch sehen.
    Was lag der Schuld meiner Mutter wirklich zugrunde? Ich meine wirklich, was lag unter Warzen und Dschinns und Beichten? Es war eine unaussprechliche Unpässlichkeit, ein Leiden, das noch nicht einmal benannt werden konnte und das sich nicht mehr auf Träume von einem unterirdischen Ehemann beschränkte ... meine Mutter war der Magie des Telefons verfallen (so wie auch mein Vater ihr bald verfallen sollte). An den Nachmittagen jenes Sommers, Nachmittagen, heiß wie Handtücher, klingelte gewöhnlich das Telefon. Wenn Ahmed Sinai in seinem Zimmer schlief, seine Schlüssel unter dem Kopfkissen und Nabelschnüre in seinem Schrank, übertönte das Schrillen des Telefons das Summen der Hitzetierchen, und meine Mutter kam, humpelnd wegen ihrer Warzen, in die Halle, um das Gespräch entgegenzunehmen. Und nun, was ist das, was ihr Gesicht mit der Farbe trocknenden Blutes überzieht? ... Was flattert sie mit den Lippen wie ein Fisch, was schnappt sie erstickt nach Luft, während sie nicht ahnt, dass sie beobachtet wird? ... Und warum sagt meine Mutter, nachdem sie volle fünf Minuten zugehört hat, mit einer Stimme wie zerbrochenes Glas, «tut mir Leid, falsch verbunden»? Warum glitzern Diamanten auf ihren Augenlidern? ... Das Messingäffchen flüsterte mir zu: «Wenn es das nächste Mal klingelt, wollen wir es herausfinden.»
    Fünf Tage später. Wieder ein Nachmittag; aber heute ist Amina weg, zu Besuch bei Nussie-der-Ente, als das Telefon Antwort heischt. «Schnell! Schnell, sonst weckt es ihn auf!» Das Äffchen, behänd, wie der Name sagt, hebt den Hörer ab, ehe Ahmed Sinai auch nur seinen Schnarchrhythmus geändert hat ... «Hallo? Jaaa? Hier ist sieben null fünf sechs eins. Hallo?» Wir lauschen, unsere Nerven zum Zerreißen gespannt, aber einen Augenblick lang kommt gar nichts. Dann, als wir schon aufgeben wollen, kommt die Stimme: «... Oh ... ja ... hallo?» Und das Äffchen schreit fast: «Hallo? Wer ist da, bitte?» Wieder Stille; die Stimme, die sich nicht vom Sprechen
hat abhalten können, überlegt sich ihre Antwort, und dann: «... Hallo? ... Ist da die Shanti-Prasad-Lkw-Vermietung, bitte ... ?» Und das Äffchen, blitzschnell: «Ja, was wünschen Sie?» Eine weitere Pause; die Stimme, die verlegen, beinahe entschuldigend klingt, sagt: «Ich möchte einen Lastwagen mieten.» O windige Entschuldigung der Telefonstimme! O durchsichtiger Humbug von Geistern! Die Stimme am Telefon war nicht die Stimme von jemand, der Lastwagen mietet; sie war weich, ein wenig fleischig, die Stimme eines Dichters ... doch danach klingelte das Telefon regelmäßig; manchmal hob meine Mutter ab, hörte schweigend zu, während ihr Mund fischähnliche Bewegungen machte, und sagte schließlich viel zu spät: «Tut mir Leid, falsch verbunden»; andere Male drängelten das Äffchen und ich uns ums Telefon, zwei Ohren an der

Weitere Kostenlose Bücher