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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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«Dillidekho»-Apparats spähte. Dugdugeetrommeln wirbelten in meinem linken (beschädigten) Ohr, als ich das Tadsch Mahal zum ersten Mal durch die Augen einer fetten Engländerin, die an Durchfall litt, erblickte; danach hüpfte ich, um den Süden gegenüber dem Norden nicht zu kurz kommen zu lassen, hinunter zum Meenakshi-Tempel in Madurai und nistete mich zwischen den verschwommenen mystischen Wahrnehmungen eines singenden Priesters ein. Ich fuhr in Gestalt eines Autorikschafahrers um den Connaught Place in Neu-Delhi und beklagte mich bei meinen Fahrgästen bitter über die steigenden Benzinkosten; in Kalkutta schlief ich unbequem in einem Stück Abflussrohr. Mittlerweile vom Reisefieber gründlich
gepackt, schwirrte ich los zum Kap Comorin und wurde eine Fischersfrau, deren Sari so eng war wie ihre Moral lose ... an rotem Strand, umspült von drei Meeren, flirtete ich mit drawidischen Herumtreiberinnen in einer Sprache, die ich nicht verstand; dann ging es hinauf in den Himalaja, in die moosbedeckte Neandertalerhütte eines Angehörigen vom Stamme der Goojar, ich stand unter der Pracht eines vollkommen kreisförmigen Regenbogens und vor der sich herabwälzenden Moräne des Kolahoigletschers. In der goldenen Festung von Dschaisalmer kostete ich das Innenleben einer Frau, die mit Spiegeln verzierte Kleider anfertigte, und in Khadschuraho war ich ein halbwüchsiger Dorfjunge, in tiefe Verlegenheit gestürzt durch die erotischen tantrischen Skulpturen auf den Chandela-Tempeln inmitten der Felder, aber unfähig, meine Augen abzuwenden ... in der exotischen Arglosigkeit des Reisens konnte ich ein kleines bisschen Frieden finden. Aber schließlich war der Tourismus nicht mehr befriedigend; Neugierde begann zu nörgeln. «Wollen wir doch mal herausfinden», sagte ich zu mir, «was hier in der Gegend wirklich vorgeht.»
    Angespornt vom eklektischen Geist meiner neun Jahre, sprang ich in die Köpfe von Film- und Kricketstars – ich erfuhr, was hinter dem Filmfare- Klatsch über die Tänzerin Vyjayantimala steckte, und ich war mit Polly Umrigar an der Linie im Brabourne-Stadion; ich war Lata Mangeshkar die Playbacksängerin und Bubu der Clown im Zirkus hinter dem Beamtenviertel ... und es war unvermeidlich, dass ich durch das zufällige Verfahren meines Gedankenhüpfens die Politik entdeckte.
    Einmal war ich ein Grundbesitzer in Uttar Pradesh, und mein Bauch quoll über die Pajamakordel, als ich Leibeigenen befahl, mein überschüssiges Getreide in Brand zu stecken ... ein anderes Mal verhungerte ich in Orissa, wo wie üblich Lebensmittelknappheit herrschte: Ich war zwei Monate alt, und die Brüste meiner Mutter hatten keine Milch mehr. Ich ergriff für kurze Zeit Besitz vom Denken eines Funktionärs der Kongresspartei, der einen Dorfschullehrer
bestach, in der kommenden Wahlkampagne seinen Einfluss zugunsten der Partei Gandhis und Nehrus geltend zu machen, und auch von den Gedanken eines Bauern aus Kerala, der beschlossen hatte, für die Kommunisten zu stimmen. Ich wurde kühner: Eines Nachmittags drang ich vorsätzlich in den Kopf des Chefministers unseres Staates ein, und so erfuhr ich mehr als zwanzig Jahre, bevor die ganze Nation darüber lachte, dass Morarji Desai täglich «sein eigenes Wasser einnahm» ... ich war in ihm, schmeckte die Wärme, als er gurgelnd ein Glas schäumenden Urins hinunterkippte. Und schließlich erreichte ich meinen Höhepunkt: Ich wurde Jawaharlal Nehru, Ministerpräsident und Verfasser eingerahmter Briefe: Ich saß mit dem großen Mann inmitten eines Haufens von Astrologen mit Zahnlücken und zottigen Bärten und regulierte den Fünfjahresplan, um ihn harmonisch nach der Sphärenmusik auszurichten ... das vornehme Leben steigt zu Kopfe. «Seht mich an!», frohlockte ich insgeheim. «Ich kann überall hingehen, wohin ich will!» In diesem Turm, der einmal bis zum Bersten mit den explosiven Vorrichtungen von Joseph D’Costas Hass angefüllt gewesen war, platzte dieser Satz (begleitet von den entsprechenden Ticktack-Geräuscheffekten) ganz und gar ausformuliert in meine Gedanken: «Ich bin die Bombe in Bombay ... seht, wie ich explodiere!»
    Denn mich hatte das Gefühl beschlichen, dass ich irgendwie eine Welt schuf, dass die Gedanken, in die ich schlüpfte, meine waren, dass die Körper, die ich in Besitz nahm, auf meinen Befehl handelten, dass ich die aktuellen Ereignisse, Kunst, Sport, die ganze üppige Vielfalt eines erstklassigen Rundfunksenders, die sich in mich ergoss,

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