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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Einfrierung ihm erteilt hatte, gelernt
und war entschlossen, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich zu ziehen. Als Dr. Narlikar ihn dadurch betrog, dass er starb und keinen Beweis für die Beteiligung meines Vaters an dem Tetrapodenprojekt hinterließ, wurde Ahmed Sinai (der, wie wir gesehen haben, dazu neigte, angesichts von Katastrophen die Nerven zu verlieren) folglich vom Maul eines sich lange hinziehenden, gewundenen Abstiegs geschluckt; er sollte sich nicht wieder erheben, bis er sich ganz am Ende seiner Tage endlich in seine Frau verliebte.

    Dies ist die Geschichte, wie man sie sich danach in Methwold’s Estate erzählte: Dr. Narlikar hatte in der Nähe des Marine Drive Freunde besucht; nach dem Besuch hatte er beschlossen, zum Strand von Chowpatty hinunterzubummeln und sich Bhel-Puri und Kokosnussmilch zu kaufen. Als er munter entlang der Kaimauer bummelte, überholte er das Schwanzende eines Sprachmarsches, der sich langsam vorwärts bewegte und friedlich sang. Dr. Narlikar näherte sich der Stelle, an der er auf der Kaimauer mit Erlaubnis der Stadtbehörde einen einzelnen, symbolischen Tetrapoden hatte aufstellen lassen, eine Art Ikone, die den Weg in die Zukunft wies. Und hier bemerkte er etwas, was ihn den Verstand verlieren ließ. Eine Gruppe Bettlerinnen hatte sich um den Tetrapoden geschart und verrichtete Puja. Auf den Sockel des Objekts hatten sie brennende Öllampen gestellt; eine der Frauen hatte ein OM-Symbol auf die Spitze gemalt; sie sagten Gebete auf, während sie den Tetrapoden gründlich und andächtig wuschen. Ein technisches Wunder war in den Schiwa-lingam verwandelt worden. Dr. Narlikar, der Fruchtbarkeitsgegner, wurde wild, da ihm bei diesem Anblick schien, als seien alle dunklen priapischen Mächte des antiken zeugungskräftigen Indien auf die Schönheit des sterilen Betons des zwanzigsten Jahrhunderts losgelassen worden ... er preschte vor, wobei er die betenden Frauen wüst beschimpfte; vor Wut leuchtete
er leidenschaftlich auf, und als er sie erreichte, trat er mit dem Fuß gegen ihre kleinen Öllampen; es wird berichtet, er habe sogar versucht, die Frauen wegzustoßen. Und all das sahen die Teilnehmer des Sprachmarsches mit eigenen Augen.
    Die Ohren der Marschierer hörten die Grobheit seiner Sprache; die Füße der Marschierer hielten an, ihre Stimmen erhoben sich tadelnd. Fäuste wurden geschüttelt, Flüche ausgestoßen. Worauf der gute Doktor, vor Wut jegliche Vorsicht vergessend, sich der Menge zuwandte und ihre Sache, ihre Herkunft und ihre weiblichen Verwandten verunglimpfte. Schweigen senkte sich herab und übte seine Macht aus. Schweigen lenkte die Füße der Marschierer zu dem glühenden Gynäkologen hin, der zwischen dem Tetrapoden und den klagenden Frauen stand. Schweigend streckten die Hände der Marschierer sich nach Narlikar aus, und in tiefem Schweigen klammerte er sich an den vierbeinigen Beton, während sie versuchten, ihn zu sich zu ziehen. Während ringsum vollkommene Geräuschlosigkeit herrschte, verlieh die Angst Dr. Narlikar die Kraft von Napfschnecken; seine Arme hielten an dem Tetrapoden fest und ließen sich nicht loslösen. Die Marschierer hängten sich selbst an den Tetrapoden ... schweigend begannen sie zu schaukeln, stumm überwand die Kraft der schieren Zahl sein Gewicht. An einem Abend, erfüllt von dämonischer Stille, kippte der Tetrapode und schickte sich an, der Erste seiner Art zu werden, der in den Wassern versank und die große Aufgabe der Landgewinnung begann. Dr. Suresh Narlikar, dessen Mund sich lautlos zu einem A öffnete, klammerte sich wie ein phosphoreszierendes Weichtier daran fest ... Mann und vierbeiniger Beton fielen ohne einen Ton. Das Klatschen des Wassers brach den Bann.
    Es hieß, dass niemand Mühe hatte, als Dr. Narlikar herabstürzte und von seiner geliebten Obsession zermalmt wurde, den Leichnam ausfindig zu machen, weil er ein Licht aussandte, das wie Feuer durchs Wasser nach oben strahlte.

    «Wisst ihr, was los ist?» «He, Mann, was gibt’s?» – Kinder, ich eingeschlossen, hingen in Trauben vor der Gartenhecke von Escorial Villa, in der sich Dr. Narlikars Junggesellenwohnung befand, und ein Laufbursche von Lila Sabarmati, der eine Miene ernster Würde aufsetzte, informierte uns: «Sie haben seinen Tod nach Hause gebracht, in Seide gehüllt.»
    Es war mir nicht erlaubt, den Tod von Dr. Narlikar zu sehen, als er mit safrangelben Blumen bekränzt auf seinem harten Einzelbett lag; aber ich brachte sowieso alles

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