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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Saleem Sinai eine wunderbare Gabe. Obwohl sein verarmtes, unterentwickeltes Land seine Fähigkeiten zu so vielen lebenswichtigen Zwecken hätte einsetzen können, zog er es vor, seine Talente zu verbergen, sie mit belanglosem Voyeurismus und harmlosen Betrügereien zu verplempern. Dieses Verhalten  – nicht gerade, ich gestehe es, das eines Helden – war das direkte Ergebnis einer Geistesverwirrung, die unablässig Sittlichkeit – das Verlangen, das zu tun, was richtig ist – und Beliebtheit – das erheblich zweifelhaftere Verlangen, das zu tun, was gebilligt wird – miteinander verwechselte. Da er die Ächtung durch die Eltern fürchtete, unterschlug er die Nachricht von seiner Verwandlung; da er nach dem Lob der Eltern strebte, missbrauchte er seine Talente in der Schule. Dieser Makel seines Charakters kann teilweise mit seinem zarten Alter entschuldigt werden, aber nur teilweise. Wirres Denken sollte in seinem Werdegang viel verpfuschen.
    Ich kann in meiner Selbsteinschätzung sehr hart sein, wenn ich will.
     
    Was stand auf dem Flachdach der Breach-Candy-Vorschule – einem Dach, erinnern Sie sich, das vom Garten von Buckingham Villa aus erreicht werden konnte, indem man einfach über eine Grenzmauer stieg? Was – nicht länger fähig, die Funktion zu erfüllen, wofür es bestimmt war – wachte über uns in jenem Jahr, als selbst der Winter vergaß, kalt zu werden; wer beobachtete Sonny Ibrahim, Schlitzauge, Haaröl und mich, wenn wir Kabaddi und Kinderkricket und Himmel-und-Hölle spielten, woran gelegentlich Cyrus-der-Große und andere Freunde, die zu Besuch kamen, teilnahmen: Fat Perce Fishwala und Glandy Keith Colaco? Was war gegenwärtig, wenn Toxy Catracks Pflegerin Bi-Appah bei jeder sich bietenden Gelegenheit aus dem obersten Stockwerk von Homis Heim schrie: «Ihr Rotzlöffel! Krachmacher! Satansbraten! Hört mit dem Krawall auf!» ... sodass wir alle wegliefen und (wenn sie unserem Blick entschwunden war) zurückkehrten, um vor dem Fenster, an dem sie gestanden hatte, Grimassen zu ziehen. Kurzum, was war hoch und blau, blätterte ab, überblickte unser Leben, was schien eine Zeit lang auf der Stelle zu treten, weil es nicht nur auf die kommende Zeit wartete, in der wir lange Hosen anziehen würden, sondern vielleicht auch auf das Kommen von Evie Burns? Vielleicht hätten Sie gern ein paar Anhaltspunkte: Was hatte einst Bomben verborgen? Wo war Joseph D’Costa am Schlangenbiss gestorben? ... Als ich nach einigen Monaten der inneren Qual endlich Zuflucht vor erwachsenen Stimmen suchte, fand ich sie in einem alten Uhrturm, den abzuschließen sich niemand die Mühe machte; und hier in der Abgeschiedenheit rostender Zeit unternahm ich paradoxerweise meine ersten zaghaften Schritte in eine bestimmte Richtung, was später dazu führte, dass ich in bedeutende Ereignisse verstrickt wurde und mit Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu tun bekam – eine Verstrickung, aus der ich mich nie wieder befreien sollte ... niemals, bis Die Witwe ...
    Aus Wäschetruhen verbannt, begann ich mich, wann immer es möglich war, unbeobachtet in den Turm der lahm gelegten Stunden
zu schleichen. Wenn die Manege wegen Hitze oder durch Zufall oder aufgrund spionierender Blicke entvölkert wurde, wenn Amina und Ahmed zu ihrem Canastaabend in den Willingdon Club gingen, wenn das Messingäffchen das Haus verlassen hatte, sich bei den Heldinnen, die sie sich neuerdings zugelegt hatte, der Schwimm- und Tauchmannschaft der Walsingham-Schule für Mädchen, herumtrieb ... das heißt, wenn die Umstände es zuließen, betrat ich mein Geheimversteck, streckte mich auf der Strohmatte aus, die ich aus der Dienstbotenunterkunft gestohlen hatte, schloss die Augen, ließ mein neu erwachtes inneres Ohr (das, wie alle Ohren, mit der Nase verbunden war) frei durch die Stadt schweifen – und noch weiter, nach Norden und Süden, Osten und Westen – und hörte allem Möglichen zu. Um dem unerträglichen Zwang zu entkommen, Leute, die ich kannte, zu belauschen, übte ich meine Kunst an Fremden aus. So kam es, dass ich mich aus vollkommen unwürdigen Gründen in die öffentlichen Angelegenheiten Indiens drängte – von zu viel Intimität aus der Fassung gebracht, benutzte ich die Welt außerhalb unseres Hügelchens zur angenehmen Entspannung.
    Die Welt, wie sie von einem verfallenen Uhrturm aus entdeckt wurde: Zuerst war ich nicht mehr als ein Tourist, ein Kind, das durch die wundersamen Gucklöcher eines privaten

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