Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
darüber in Erfahrung, denn die Nachricht verbreitete sich weit über die Grenzen seines Zimmers hinaus. Am meisten hörte ich darüber von den Dienstboten des Anwesens, die es ganz natürlich fanden, offen über einen Tod zu sprechen, aber selten etwas übers Leben sagten, denn im Leben war ja alles offensichtlich.
Von Dr. Narlikars eigenem Hausdiener erfuhr ich, dass der Tod durch Verschlucken großer Mengen des Meeres selbst die Eigenschaften von Wasser angenommen hatte: er war zu etwas Flüssigem geworden und sah glücklich, traurig oder gleichgültig aus, je nachdem, wie das Licht darauf fiel. Homi Catracks Gärtner warf ein: «Es ist gefährlich, zu lange den Tod anzusehen, sonst trägt man ein bisschen von ihm mit sich fort, und das hat Folgen.» Wir fragten: Folgen? Was für Folgen? Welche Folgen? Wie? Und Purushottam der Sadhu, der seinen Platz unter dem Wasserhahn im Garten von Buckingham Villa zum ersten Mal seit Jahren verlassen hatte, sagte: «Ein Tod lässt die Lebenden sich selbst zu deutlich sehen; nachdem sie in seiner Nähe gewesen sind, werden sie überdreht.» Diese außergewöhnliche Behauptung wurde in der Tat von den Ereignissen bestätigt, denn danach wurde Toxy Catracks Pflegerin Bi-Appah, die geholfen hatte, den Leichnam zu waschen, noch verbissener, noch zänkischer, noch furchterregender; und es sah so aus, als sei jeder, der den Tod Dr. Narlikars sah, als er feierlich aufgebahrt dalag,
betroffen. Nussie Ibrahim wurde noch alberner und glich noch mehr einer Ente, und Lila Sabarmati, die über dem Tod wohnte und geholfen hatte, sein Zimmer herzurichten, gab sich anschließend einem promiskuösen Verhalten hin, das schon immer in ihr geschlummert hatte, und begab sich auf einen Weg, an dessen Ende Kugeln fallen sollten und ihr Ehemann, Fregattenkapitän Sabarmati, den Verkehr von Colaba mit einem äußerst unüblichen Stab regeln sollte ...
Unsere Familie jedoch hielt sich vom Tod fern. Mein Vater weigerte sich, hinzugehen und ihm die letzte Ehre zu erweisen, und sollte seinen ehemaligen Freund nie mehr mit Namen nennen, sondern einfach «diesen Verräter».
Zwei Tage später, nachdem die Nachricht in den Zeitungen gestanden hatte, kam Dr. Narlikar plötzlich zu einem riesigen Anhang weiblicher Verwandter. Nachdem er sein Leben lang Junggeselle und Frauenfeind gewesen war, wurde er im Tod von einem Meer riesenhafter, lärmender, omnikompetenter Frauen verschlungen, die aus den seltsamsten Winkeln der Stadt hervorgekrochen kamen, aus Molkereien und aus Kinokassen, aus Mineralwasserausschänken am Straßenrand und aus unglücklichen Ehen; in einem Jahr der Umzüge hielten die Narlikar-Frauen ihre eigene Parade ab, ein enormer Strom überdimensionaler Weiblichkeit floß unser zweigeschossiges Hügelchen hinan, um Dr. Narlikars Wohnung so voll zu füllen, dass man von der Straße her ihre Ellbogen aus den Fenstern herausragen und ihre Hintern auf die Veranda überfließen sah. Eine Woche lang konnte keiner nachts ein Auge zutun, weil das Klagen der Narlikar-Frauen die Luft erfüllte, aber ungeachtet ihres Geheuls erwiesen die Frauen sich als so kompetent, wie sie aussahen. Sie übernahmen die Leitung des Entbindungsheims, sie durchforsteten Narlikars sämtliche geschäftlichen Transaktionen, und sie schalteten meinen Vater kalt lächelnd aus dem Tetrapodengeschäft aus, einfach so. Nach all diesen Jahren blieb mein Vater mit nichts als einem Loch in der Tasche zurück, während die Frauen
Narlikars Leichnam nach Benares schafften, um ihn einäschern zu lassen, und die Dienstboten des Anwesens flüsterten mir zu, sie hätten gehört, dass die Asche des Doktors in der Dämmerung am Manikarnika-Ghat in das Wasser des heiligen Ganges gestreut worden und nicht untergegangen sei, sondern wie winzige Leuchtkäfer auf der Wasseroberfläche geschwommen und ins Meer hinausgespült worden sei, wo sie mit ihrer seltsamen Leuchtkraft sicher die Schiffskapitäne erschreckt habe.
Was Ahmed Sinai betraf ich schwör’s, nach Narlikars Tod und der Ankunft der Frauen begann er buchstäblich zu verblassen ... allmählich wurde seine Haut bleich, sein Haar verlor die Farbe, innerhalb weniger Monate war er bis auf das Dunkle seiner Augen vollkommen weiß geworden. (Mary Pereira erklärte Amina: «Dieser Mann ist kalt bis aufs Blut, deshalb hat seine Haut jetzt Eis produziert, weißes Eis wie im Kühlschrank.») Ich sollte in aller Aufrichtigkeit sagen, dass er, obwohl er vorgab, von seiner Verwandlung in einen
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