Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
gedrungenen, hässlichen Betonblöcke niederzulassen, die, fast ohne dass wir es bemerkt hatten, auf den unteren Ausläufern unseres Hügelchens entstanden und seltsam aufgeteilt waren: Amerikaner und andere Ausländer lebten (wie Evie) in Noor Ville; Erfolgsgeschichten von indischen Aufsteigern endeten im Laxmi Vilas. Von der Höhe von Methwold’s Estate sahen wir auf sie alle hinab, auf Braun und Weiß gleichermaßen. Aber niemand sah je auf Evie Burns hinab – außer einem einzigen Mal. Nur einmal legte jemand sie aufs Kreuz.
Ehe ich noch in meine erste lange Hose stieg, verliebte ich mich in Evie; aber die Liebe in jenem Jahr war eine seltsame Kettenreaktion. Um Zeit zu sparen, setze ich uns alle im Metro-Kino in dieselbe Reihe; Robert Taylor spiegelt sich in unseren Augen, während wir in flatternder Trance dasitzen – und auch in symbolischer Reihenfolge: Saleem Sinai sitzt neben und ist verliebt in Evie Burns, sie sitzt neben und ist verliebt in Sonny Ibrahim, der sitzt neben und ist verliebt in das Messingäffchen, das neben dem Gang sitzt und einen Mordshunger hat ... ich liebte Evie Burns ungefähr sechs Monate meines Lebens; zwei Jahre später war sie wieder in Amerika, erstach eine alte Frau und wurde in die Besserungsanstalt geschickt.
An dieser Stelle ist es angebracht, kurz meinen Dank auszudrücken: Hätte Evie nicht unter uns gelebt, wäre meine Geschichte vielleicht nie über Tourismus in einem Uhrturm und Mogeln im Unterricht hinaus gediehen ... und dann hätte es keinen Höhepunkt in der Herberge einer Witwe gegeben, keinen klaren Beweis für meine Bedeutung, kein Finale in einer qualmenden Fabrik, über der die zwinkernde, safrangelbe und grüne tanzende Gestalt der
Neongöttin Mumbadevi thront. Aber Evie Burns (war sie Schlange oder Leiter? die Antwort liegt auf der Hand: beides ) kam, komplett mit dem silbernen Fahrrad, das mich nicht nur in die Lage versetzte, die Mitternachtskinder zu entdecken, sondern auch die Teilung des Staates Bombay zu sichern.
Um mit dem Anfang anzufangen: Ihr Haar war aus Vogelscheuchenstroh, ihre Haut mit Sommersprossen übersät, und ihre Zähne lebten in einem Metallkäfig. Diese Zähne waren, schien es, das Einzige auf Erden, worüber sie keine Macht hatte – sie wuchsen aufs Geratewohl, in heimtückischen Überlappungen, wie wild verlegtes Pflaster, und taten ihr schrecklich weh, wenn sie Eis aß. (Diese eine Verallgemeinerung erlaube ich mir: Amerikaner haben das Weltall bezwungen, haben aber keine Herrschaft über ihre Münder; wohingegen Indien machtlos ist, seine Kinder aber ausgezeichnete Zähne haben.)
Von Zahnschmerzen gefoltert, war meine Evie großartig über den Schmerz erhaben. Sie weigerte sich, von Zähnen und Zahnfleisch beherrscht zu werden, aß Kuchen und trank Cola, wann immer es welches gab, und beklagte sich nie. Eine zähe Göre, Evie Burns: Ihre Bezwingung des Schmerzes bestätigte ihre Oberherrschaft über uns alle. Es wurde einmal festgestellt, dass alle Amerikaner eine Grenze brauchen: Schmerz war die ihre, und sie war entschlossen, sie nach vorn zu verlegen.
Einmal schenkte ich ihr schüchtern eine Blumenkette (Königin-der-Nacht für meine Lilie-des-Abends), von meinem eigenen Taschengeld bei einer Straßenhändlerin in Scandal Point gekauft. «Ich trage keine Blumen», sagte Evelyn Lilith, schleuderte die unerwünschte Kette in die Luft und durchschoss sie, ehe sie niederfiel, mit einer Kugel aus ihrer unfehlbaren Daisy-Luftpistole. Indem sie Blumen mit einer Daisy vernichtete, tat sie kund, dass sie sich durch nichts behindern ließ, nicht einmal durch eine Kette: Sie war unsere kapriziöse, quirlige Lilie-des-Hügels. Und zugleich Eve. Der Adamsapfel meines Auges.
Wie sie ankam: Sonny Ibrahim, Schlitzauge und Haaröl Sabarmati, Cyrus Dubash, das Äffchen und ich spielten Kinderkricket in der Manege zwischen Methwolds vier Palästen. Ein Neujahrsspiel: Toxy applaudierte an ihrem vergitterten Fenster, selbst Bi-Appah war guter Laune und beschimpfte uns ausnahmsweise nicht. Kricket ist – selbst wenn es von Kindern gespielt wird – ein ruhiges Spiel: Frieden in Leinsamenöl getränkt. Der Kuss von Leder und Weidenholz, vereinzelter Applaus, der gelegentliche Ruf –«Guter Schlag, Sir!» –«Was’n?», aber Evie auf ihrem Fahrrad scherte sich einen Dreck drum. «He, ihr da! Ihr alle! He, was is’n los? Seid ihr taub oder was?»
Ich schlug gerade den Ball (elegant wie Ranji, kräftig wie Vinoo Mankad), als sie auf
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