Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
bereithielten, zwang sie sich, wach zu bleiben; dunkle Ringe erschienen unter ihren Augen, die von einem dünnen, filmartigen Schleier überzogen waren, und ihre verschwommenen Wahrnehmungen verschmolzen Wachen und Träumen allmählich zu etwas sehr Ähnlichem ... es ist gefährlich, in so einen Zustand zu geraten, Padma. Nicht nur leidet die Arbeit darunter, sondern es entweichen auch Dinge aus den Träumen ... Joseph D’Costa war es in der Tat gelungen, die verwischte Grenze zu übertreten, und er erschien jetzt in Buckingham Villa nicht als Albtraum, sondern als leibhaftiger Geist. Sichtbar nur für Mary Pereira (zu jener Zeit), begann er, sie in allen Räumen unseres Hauses heimzusuchen, in dem er, zu ihrem Entsetzen und zu ihrer Scham, so nonchalant auftrat, als sei es sein eigenes. Sie sah ihn im Wohnzimmer zwischen Vasen aus geschliffenem Glas und Dresdner Porzellanfiguren und den sich drehenden Schatten der Deckenventilatoren, er rekelte sich in weichen Sesseln und ließ seine langen, mit Lumpen bekleideten Beine über die Armlehne baumeln; seine Augen waren mit dem Weißen von Eiern ausgefüllt, und wo die Schlange ihn in die Füße gebissen hatte, waren Löcher. Einmal sah sie ihn nachmittags in Amina Begums Schlafzimmer, als er sich seelenruhig direkt neben meine schlafende Mutter legte, und sie platzte heraus: «He du! Verschwinde! Was glaubst du eigentlich, hältst dich wohl für einen Herrn?» – aber sie erreichte nur, dass meine verwirrte Mutter wach wurde. Josephs Geist quälte Mary ohne Worte, und das Schlimmste war, dass sie merkte, wie sie sich an ihn gewöhnte, wie vergessene Empfindungen der Zuneigung sich in ihr regten, und obwohl sie sich sagte, es sei verrückt, wurde sie langsam von einer Art wehmütiger Liebe zu dem toten Krankenpfleger erfüllt.
Doch die Liebe wurde nicht erwidert; Josephs eiweiße Augen blieben ausdruckslos, seine Lippen blieben in einem anklagenden, bitteren Grinsen zusammengepresst, und schließlich erkannte sie, dass diese neue Verkörperung sich nicht von ihrem alten Traum-Joseph unterschied (allerdings wurde sie von ihr nie angegriffen) und dass sie, wenn sie ihn loswerden wollte, das Undenkbare tun und ihr Verbrechen der Welt gestehen müsste. Aber sie gestand nicht, und das war wahrscheinlich meine Schuld – denn Mary liebte mich wie ihren eigenen nicht empfangenen und unempfänglichen Sohn, und ihre Beichte hätte mich tief verletzt, deshalb erlitt sie um meinetwillen den Geist ihres Gewissens und stand, von Gespenstern heimgesucht, in der Küche (mein Vater hatte an einem dschinndurchtränkten Abend den Koch gefeuert) und kochte unser Essen und wurde zufällig die Verkörperung der ersten Zeile meines Lateinlehrbuchs, Ora maritima: «Am Meeresrand kocht die Magd die Mahlzeit.» Ora maritima, ancilla cenam parat. Sehen Sie einer kochenden Ayah in die Augen, und Sie werden mehr sehen, als Lehrbücher je wissen.
An meinem zehnten Geburtstag holte mich manches ein.
An meinem zehnten Geburtstag war klar, dass es das launische Wetter – Stürme, Regenfluten, Hagelschauer aus wolkenlosem Himmel –, das auf die unerträgliche Hitze des Jahres 1956 gefolgt war, geschafft hatte, den zweiten Fünfjahresplan zu Fall zu bringen. Obwohl gerade Wahlen bevorstanden, war die Regierung gezwungen, der Welt mitzuteilen, dass sie keine weiteren Entwicklungshilfedarlehen annehmen könne, es sei denn, die Kreditgeber seien bereit, eine unbegrenzte Zeit auf Rückzahlung zu warten. (Doch lassen Sie mich den Sachverhalt nicht zu sehr übertreiben: obwohl die Produktion von Fertigstahl 1961, am Ende des Plans, nur 2,4 Millionen Tonnen erreicht hatte und obwohl sich in diesen
fünf Jahren die Zahl der landlosen und arbeitslosen Massen de facto erhöht hatte, sodass sie größer war, als sie es unter dem britischen Radsch je gewesen war, gab es auch wesentliche Verbesserungen. Die Produktion von Eisenerz wurde fast verdoppelt, die Stromkapazität verdoppelte sich tatsächlich, die Kohleförderung sprang von achtunddreißig Millionen auf vierundfünfzig Millionen Tonnen. Fünf Millionen Meter Baumwollstoff wurden jedes Jahr produziert. Außerdem große Mengen Fahrräder, Werkzeugmaschinen, Dieselmotoren, Elektropumpen und Deckenventilatoren. Aber ich kann mir nicht helfen, ich muss mit einem Fehlschlag enden: Das Analphabetentum blühte nach wie vor, die Bevölkerung wuchs weiterhin rapide.)
An meinem zehnten Geburtstag bekamen wir Besuch von meinem Onkel Hanif, der sich auf
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