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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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können für viele Dinge stehen, je nachdem, zu welcher Ansicht Sie neigen: Sie können als die letzte Verkörperung all dessen, was in unserer mythengeplagten Nation antiquiert und rückschrittlich ist, betrachtet werden, und dann war ihre Niederlage, gesehen im Kontext eines auf dem Weg zur Modernisierung begriffenen Wirtschaftssystems des zwanzigsten Jahrhunderts, durchaus wünschenswert; oder als die wahre Hoffnung auf Freiheit, die nun für alle Zeiten erstickt ist; was sie aber auf keinen Fall werden dürfen: die bizarre Schöpfung eines umherschweifenden, erkrankten Gemüts. Nein: Um Krankheit geht es weder im einen noch im andern Fall.
    «Schon gut, schon gut, Baba», Padma versucht mich zu beruhigen.
«Warum wirst du denn so ärgerlich? Ruh dich aus, ruh dich ein Weilchen aus, das ist alles, was ich verlange.»
     
    Gewiss war die Zeit in jenen Tagen, die zu meinem zehnten Geburtstag führten, halluzinatorisch; doch die Halluzinationen waren nicht in meinem Kopf. Mein Vater, Ahmed Sinai, war, vom Tod des Verräters Dr. Narlikar und dem zunehmend mächtigeren Einfluss von Dschinn-und-Tonic getrieben, in eine Traumwelt von beunruhigender Unwirklichkeit geflohen, und der heimtückischste Aspekt dieses langsamen Verfalls war, dass die Leute ihn lange Zeit fälschlicherweise für das genaue Gegenteil von dem hielten, was er war ... Da kommt Sonnys Mutter, Nussie-die-Ente, und sagt zu Amina eines Abends in unserem Garten: «Wie gut geht’s euch doch allen, Amina Schwester, jetzt, wo euer Ahmed in der Blüte seines Lebens steht! So ein prächtiger Mann, und er hat’s so weit gebracht, weil ihm an seiner Familie liegt!» Sie sagt es so laut, dass er es hören kann, und obwohl er so tut, als erkläre er dem Gärtner, was mit der kränkelnden Bougainvillea zu machen sei, obwohl er einen Ausdruck demütiger Missachtung seiner selbst annimmt, ist es ganz und gar nicht überzeugend, weil sein gedunsener Körper, ohne dass er es weiß, begonnen hat, sich aufzublasen und einherzustolzieren. Sogar Purushottam, der entmutigte Sadhu unter dem Wasserhahn im Garten, sieht verlegen aus.
    Mein verblassender Vater ... fast zehn Jahre lang war er am Frühstückstisch, bevor er sich das Kinn rasierte, immer guter Laune gewesen, aber als Bart und Haupthaar zusammen mit der blasser werdenden Haut weiß wurden, war der Fixpunkt seines Glücks nicht länger gewiss, und es kam der Tag, an dem er zum ersten Mal beim Frühstück einen Wutanfall bekam. Das war der Tag, an dem die Steuer erhöht und gleichzeitig die Steuerschwelle gesenkt wurde; mit einer heftigen Geste warf er die Times of India hin und blickte mit den roten Augen um sich, die er, wie ich wusste, nur bei seinen Wutanfällen hatte. «Es ist, als ginge man aufs Klo!», explodierte
er kryptisch; Ei Toast Tee erzitterten unter seinem detonierenden Zorn. «Man hebt sein Hemd und lässt die Hose runter! Frau, diese Regierung bescheißt uns von oben bis unten.» Und meine Mutter errötet rosa durch das Schwarz hindurch: «Janum, die Kinder, bitte! »Aber er war schon davongestampft, und mir wurde auf einmal völlig klar, was die Leute meinten, wenn sie sagten, das Land sei im Arsch.
    In den folgenden Wochen erblich das Kinn meines Vater noch mehr, und noch etwas mehr als der Frieden am Frühstückstisch war verloren, er begann zu vergessen, was für ein Mann er in der alten Zeit vor Narlikars Verrat gewesen war. Die Rituale unseres häuslichen Lebens begannen zu verfallen. Er begann, dem Frühstückstisch fernzubleiben, sodass Amina ihm kein Geld mehr abschmeicheln konnte, aber zum Ausgleich ging er nachlässig mit seinem Bargeld um, und seine weggehängten Kleider waren voller Rupienscheine und Münzen, sodass sie ihr Auskommen hatte, indem sie ihm die Taschen ausräumte. Ein deprimierenderes Symptom seines Rückzugs vom Familienleben aber war, dass er uns nur noch selten Gutenachtgeschichten erzählte, und wenn er es tat, genossen wir sie nicht, weil sie schlecht ausgedacht und nicht überzeugend waren. Ihr Thema war immer noch dasselbe, Prinzen, Kobolde, fliegende Pferde, Abenteuer im Zauberland, aber in seiner unpersönlichen Stimme konnten wir das Ächzen und Knarren einer rostenden, verblühten Vorstellungskraft hören.
    Mein Vater war der Abstraktion erlegen. Es scheint, dass Narlikars Tod und das Ende seines Tetrapodentraums Ahmed Sinai gezeigt hatten, wie unzuverlässig die Natur menschlicher Beziehungen war; er hatte beschlossen, sich aller solcher Bande zu

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