Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
entledigen. Er gewöhnte sich an, vor Morgengrauen aufzustehen und sich mit seiner derzeitigen Fernanda oder Flory unten in seinem Büro einzuschließen, vor dessen Fenster die beiden immergrünen Bäume, die er zur Erinnerung an meine und des Messingäffchens Geburt gepflanzt hatte, schon hoch genug gewachsen waren, um
das Tageslicht, wenn es auftauchte, weitgehend fern zu halten. Da wir kaum je wagten, ihn zu stören, begab mein Vater sich in eine tiefe Einsamkeit, ein Zustand, der in unserem übervölkerten Land so ungewöhnlich ist, dass er an Abnormalität grenzt; er begann, das Essen aus unserer Küche zurückzuweisen und von billigem Dreck zu leben, der täglich von seinem Mädchen in einem Tiffin-Behälter gebracht wurde, lauwarmen Parathas und aufgeweichten Gemüsesamosas und Limonaden. Ein seltsamer Duft wehte unter seiner Bürotür hervor; Amina hielt ihn für den Geruch von verbrauchter Luft und zweitklassigem Essen, ich aber bin überzeugt, dass ein alter Geruch in stärkerer Form wiedergekehrt war, das alte Aroma des Versagens, das ihm schon in frühesten Zeiten angehangen hatte.
Er stieß die vielen Mietskasernen ab, die er bei seiner Ankunft in Bombay billig gekauft hatte und auf denen unser Familienvermögen beruhte. Er sagte sich los von allen Geschäftsverbindungen mit menschlichen Wesen – selbst von seinen anonymen Mietern in Kurla und Worli, in Matunga und Mazagaon und Mahim –, machte seine Aktiva flüssig und tauchte in die verdünnte und abstrakte Luft der Finanzspekulation ein. Eingeschlossen in seinem Büro, hatte er in jenen Tagen nur noch durchs Telefon zur Außenwelt Kontakt, von seinen armen Fernandas einmal abgesehen. Er verbrachte den Tag, indem er eingehend mit diesem Instrument konferierte, während es sein Geld in diesen und jenen Wertpapieren oder den und den Aktien anlegte, während es in Regierungsanleihen oder in im Kurs fallende Dividendenpapiere investierte und kurzfristig oder langfristig verkaufte, wie er befahl ... und dabei unweigerlich den besten Tagespreis erzielte. In einer Glückssträhne, vergleichbar nur dem Erfolg, den meine Mutter so viele Jahre zuvor beim Pferderennen gehabt hatte, eroberten mein Vater und sein Telefon die Börse im Sturm, ein Kunststück, das durch Ahmed Sinais zunehmend schlimmer werdende Trinkgewohnheiten noch bemerkenswerter wurde. Dschinndurchtränkt gelang es ihm nichtsdestoweniger, von den abstrakten Wogen des Geldmarktes getragen, auf dessen emotionale,
unvorhersagbare Verschiebungen und Veränderungen zu reagieren wie ein Liebhaber auf die geringfügigste Laune seiner Geliebten ... er konnte spüren, wann eine Aktie steigen würde, wann der Höchstpreis erreicht würde, und immer stieg er vor dem Sturz aus. So wurde sein Eintauchen in die abstrakte Einsamkeit seiner Telefontage versteckt, so verbargen seine finanziellen Bravourstückchen seine stetige Entfernung von der Realität; doch unter dem Mantel seines wachsenden Reichtums wurde sein Zustand beständig schlimmer.
Schließlich kündigte die letzte seiner kattunberockten Sekretärinnen, weil sie das Leben in einer Atmosphäre, die so dünn und abstrakt war, dass sie das Atmen beschwerlich machte, nicht mehr ertragen konnte; und nun ließ mein Vater Mary Pereira holen und schmeichelte ihr mit: «Wir sind doch Freunde, Mary, du und ich, oder nicht?», worauf die arme Frau antwortete: «Ja, Sahib, ich weiß. Sie werden mich versorgen, wenn ich alt bin», und versprach, Ersatz zu finden. Am nächsten Tag brachte sie ihm ihre Schwester, Alice Pereira, die für alle möglichen Chefs gearbeitet hatte und für Männer eine beinahe unendliche Geduld aufbrachte. Alice und Mary hatten ihren Streit wegen Joe D’Costa längst begraben; die jüngere Frau kam nach der Arbeit oft zu uns herauf und brachte ihre Lebhaftigkeit und Keckheit in das etwas bedrückende Klima unseres Heims. Ich mochte sie gern, und durch sie erfuhren wir von den größten Exzessen meines Vaters, deren Opfer ein Papagei und eine Promenadenmischung waren.
Bis Juli war Ahmed Sinais Trunkenheit fast ein Dauerzustand geworden; eines Tages, berichtete Alice, hatte er sich plötzlich zu einer Autofahrt aufgemacht, die sie um sein Leben fürchten ließ, und war dann doch irgendwie zurückgekehrt, mit einem verhängten Vogelbauer, in dem, so sagte er, seine neueste Errungenschaft sei, ein Bülbül, auch indische Nachtigall genannt. «Gott weiß wie lange», vertraute Alice uns an, «erzählte er mir alles von Bülbüls,
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