Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
mannigfaltigen Gaben für meinen Verstand eine Art vielköpfiges Ungeheuer, das in den unendlich vielen Sprachen Babels sprach; sie verkörperten das Wesen der Vielfalt, und ich sehe keinen Sinn darin, sie jetzt zu teilen. (Doch es gab Ausnahmen. Insbesondere gab es Shiva, und es gab Parvati-die-Hexe.)
    ... Schicksal, historische Rolle, göttliches Wesen: Das hieß für zehnjährige Speiseröhren den Mund zu voll nehmen. Vielleicht sogar für meine, trotz der stets gegenwärtigen Ermahnungen des deutenden Fingers des Fischers und des Briefs des Ministerpräsidenten wurde ich von meinen durch die Nase eingesogenen Wunderdingen
andauernd durch die geringfügigen Vorkommnisse des Alltagslebens abgelenkt, durch Hungergefühl oder Schläfrigkeit, durch Affentheater mit dem Äffchen oder Kinobesuche, bei denen ich mir Die Schlangenpriesterin oder Vera Cruz ansah, durch meine wachsende Sehnsucht nach langen Hosen und die unerklärliche Hitze unterhalb des Gürtels, die durch das näher rückende Schulfest hervorgerufen wurde, bei dem uns, den Jungen von der Cathedral and John Connor High School für Jungen, gestattet sein würde, den Boxstepp und den Mexican Hat Dance mit den Mädchen von der Schwesterinstitution zu tanzen – solchen wie Masha Miovic, der Meisterin im Brustschwimmen («Hihi», sagte Glandy Keith Colaco), und Elizabeth Purkiss und Janey Jackson, europäischen Mädchen, mein Gott, die weite Röcke trugen und was vom Küssen verstanden! -, kurzum, meine Aufmerksamkeit wurde ständig von der schmerzhaften, mühevollen Qual des Erwachsenwerdens in Anspruch genommen.
    Selbst ein symbolischer Ganter muss schließlich einmal zur Erde zurück; deshalb genügt es jetzt nicht (wie es auch damals nicht genügte), wenn ich meine Geschichte auf ihre wunderbaren Seiten beschränke; ich muss zum Alltäglichen zurückkehren (wie ich stets dahin zurückgekehrt bin); ich muss zulassen, dass Blut vergossen wird.
     
    Die erste Verstümmelung Saleem Sinais, auf die rasch die zweite folgte, fand eines Mittwochs Anfang 1958 – dem Mittwoch des freudig erwarteten Festes – unter der Schirmherrschaft der Anglo-Schottischen Erziehungsgesellschaft statt. Das heißt, sie ereignete sich in der Schule.
    Saleems Angreifer: gut aussehend, frenetisch, mit dem zottigen Schnurrbart eines Barbaren: Ich präsentiere die umherspringende, Haare raufende Gestalt Herrn Emil Zagallos, der uns Geographie und Gymnastik lehrte und der an jenem Morgen, ohne es zu beabsichtigen, die Krise meines Lebens heraufbeschwor. Zagallo
behauptete, Peruaner zu sein, und liebte es, uns Dschungelinder, Glasperlensammler zu nennen; er hängte einen Druck, der einen grimmigen, verschwitzten Soldaten mit spitzem Blechhut und Metallhosen zeigte, über der Tafel auf und hatte eine unnachahmliche Art, in Zeiten großer nervlicher Anspannung mit spitzem Finger darauf zu deuten und zu brüllen: «Ihr säht ihn, ihr Wilden? Diesär Mann ist Zivilisation! Zeigt ihm gefälligst Rräspäkt: Er hat ein Schwärt!» Und dann ließ er seinen Rohrstock durch die ummauerte Luft sausen. Wir nannten ihn Pagal-Zagal, den verrückten Zagallo, denn trotz all seines Geredes von Lamas und Conquistadores und dem Pazifischen Ozean glaubten wir felsenfest an das Gerücht, dass er in einer Mietskaserne in Mazagaon geboren wurde und seine goanesische Mutter von einem Schiffsagenten sitzen gelassen worden war; er war also nicht nur ein «Anglo», sondern dazu auch noch unehelich geboren. Da wir das wussten, verstanden wir, warum Zagallo seine romanische Aussprache pflegte, und auch, warum er immer wütend war und mit den Fäusten gegen die Steinwände des Klassenzimmers schlug; doch das Wissen hielt uns nicht davon ab, Angst zu haben. Und an diesem Mittwochmorgen wussten wir, dass uns Ärger bevorstand, denn der frei wählbare Kathedralenbesuch war ausgefallen.
    Die Doppelstunde am Mittwochmorgen war Zagallos Geographiestunde, aber nur Idioten und Jungen aus bigotten Elternhäusern nahmen daran teil, denn es war gleichzeitig die Zeit, in der wir frei wählbar in einem Zweierzug zur St.-Thomas-Kathedrale abziehen konnten, in einem langen Zug von Jungen jeder erdenklichen Religionszugehörigkeit, die vor der Schule in den Schoß des taktvollerweise frei wählbaren Gottes der Christen flüchteten. Das machte Zagallo verrückt, aber er konnte nichts dagegen tun; an diesem Tag jedoch lag in seinen Augen ein finsteres Glitzern, denn der Krächzer (will sagen, Mr. Crusoe der Direktor) hatte in der

Weitere Kostenlose Bücher