Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Verfügung stellte? ... Darauf Shiva: «Vergiss das alles, Mann. Dieser Klub-Blubb-Bluff ist doch bloß für euch reiche Jungs!» Aber eine Zeit lang wurde er überstimmt. Parvati-die-Hexe, die Zauberkünstlerstochter aus Delhi, ergriff Partei für mich (so wie sie mir Jahre später das Leben retten sollte) und verkündete: «Nein, hört einmal alle her jetzt: Ohne Saleem kommen wir nirgends hin. Wir können nicht reden und nichts. Er hat Recht. Er soll der Chef sein!» Und ich: «Nein, lasst den Chef beiseite, betrachtet mich nur als ... als großen Bruder vielleicht. Ja, wir sind eine Familie, gewissermaßen. Ich, ich bin bloß der Älteste.» Darauf antwortete Shiva verächtlich, aber ohne etwas dagegen einwenden zu können: «Okay, großer Bruder: Dann sag uns jetzt, was wir tun sollen.»
Da machte ich dann die Konferenz mit den Begriffen bekannt,
die mich schon die ganze Zeit quälten: mit dem Begriff des Zwecks und dem der Bedeutung. «Wir müssen darüber nachdenken», sagte ich, «wozu wir da sind.»
Ich gebe getreulich die Ansichten einer typischen Auswahl der Konferenzmitglieder wieder (mit Ausnahme der Zirkusfreaks und derjenigen, die, wie Sundari, das Bettlermädchen mit den Messernarben, ihre Kräfte verloren hatten und dazu neigten, bei unseren Debatten zu schweigen wie arme Verwandte bei einem Festmahl): Unter den vorgeschlagenen Philosophien und Zielen waren Kollektivismus –«wir sollten alle zusammenkommen und irgendwo leben, oder nicht?, was würden wir von anderen Leuten brauchen?» – und Individualismus –, «du sagst wir, aber zusammen sind wir unwichtig; was zählt, ist, dass jeder von uns eine Gabe hat, die er zu seinem Nutzen einsetzen kann» –, Sohnespflicht –«jedenfalls können wir unseren Vätern-Müttern helfen, das ist unsere Aufgabe» – und Kinderrevolution -, «jetzt endlich müssen wir allen Kindern zeigen, dass es möglich ist, Eltern loszuwerden!» –, Kapitalismus – «denkt bloß mal, was wir für Geschäfte machen könnten! Allah, wie reich wir werden könnten!» – und Altruismus –«unser Land braucht begabte Leute; wir müssen die Regierung fragen, wie sie unsere Fähigkeiten einzusetzen wünscht» –, Wissenschaft –«wir müssen zulassen, dass man uns erforscht» – und Religion –«wir wollen uns der Welt offenbaren, damit alle in Gott frohlocken» -, Mut –«wir sollten in Pakistan einmarschieren!» – und Feigheit –«um Himmels willen, wir müssen geheim bleiben, stellt euch doch bloß vor, was sie uns antun werden, uns als Hexen steinigen und wer weiß was.» Es gab Erklärungen zugunsten der Frauenrechte und Petitionen, die für die Verbesserung des Loses der Unberührbaren eintraten; Kinder ohne Land träumten von Land und solche, die zu Bergstämmen gehörten, von Jeeps; und auch Machtphantasien gab es. «Sie können uns nicht aufhalten, Mann! Wir können hexen und fliegen und Gedanken lesen und sie in Frösche verwandeln und Gold und Fische machen, und sie verlieben sich in uns, und wir
können durch Spiegel verschwinden und unser Geschlecht verändern ... wie sollen sie kämpfen können?»
Ich will nicht leugnen, dass ich enttäuscht war. Ich hätte es nicht sein sollen; außer ihren Gaben war an den Kindern nichts Ungewöhnliches; ihre Köpfe waren voll von all den üblichen Dingen, Vätern Müttern Geld Essen Land Besitz Ruhm Macht Gott. Nirgends in den Gedanken der Konferenz konnte ich etwas so Neues wie uns selbst finden ... aber auch ich befand mich schließlich auf dem falschen Gleis, ich konnte nicht klarer sehen als irgendjemand sonst, und sogar als Soumitra der Zeitreisende sagte: «Ich sage euch – das alles ist sinnlos –, sie machen uns fertig, noch ehe wir angefangen haben!», beachtete ihn keiner von uns. Mit dem Optimismus der Jugend – der eine ansteckendere Form derselben Krankheit ist, die einst meinen Großvater Aadam Aziz ergriffen hatte – weigerten wir uns, die dunkle Seite zu betrachten, und kein Einziger von uns deutete an, dass die Vernichtung der Zweck der Mitternachtskinder sein könnte, dass wir keine Bedeutung haben würden, bis wir ausgelöscht wären.
Um ihre Intimsphäre zu respektieren, lehne ich es ab, die Stimmen voneinander zu unterscheiden – und auch aus anderen Gründen. Zum einen könnte meine Erzählung nicht mit fünfhunderteinundachtzig voll abgerundeten Persönlichkeiten fertig werden, zum anderen blieben die Kinder trotz ihrer wundersam voneinander verschiedenen
Weitere Kostenlose Bücher