Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
auch der Name einer Affenart ist.
Alles hat Gestalt, wenn man danach sucht. Man kann der Form nicht entkommen.
Aber ehe das Blut an die Reihe kommt, werde ich mich (wie der Parahamsa, der von einem Element ins andere gleiten kann) aufmachen und kurz zu den Angelegenheiten meiner Innenwelt zurückkehren, denn obwohl die Kinder vom Hügel mich nach dem Fall von Evie Burns nicht ächteten, fand ich es schwer zu verzeihen; und eine Weile zog ich mich zurück und hielt mich abseits, versunken in die Ereignisse in meinem Kopf, in die Frühgeschichte der Vereinigung der Mitternachtskinder.
Um ehrlich zu sein: Ich mochte Shiva nicht. Ich hatte eine Abneigung gegen seine ungeschliffene Sprache und seine grobschlächtigen Ideen, und ich begann, ihn einer Serie schrecklicher Verbrechen zu verdächtigen – obwohl es sich als unmöglich für mich erwies, in seinen Gedanken einen Beweis dafür zu finden, denn er konnte als einziges der Mitternachtskinder jeden Teil seiner Gedanken vor mir verschließen, den er für sich behalten wollte, was an sich schon meine wachsende Abneigung und mein Misstrauen gegen den rattengesichtigen Kerl verstärkte. Ich war jedoch alles andere als unfair,
und es wäre nicht fair gewesen, ihn von den anderen Mitgliedern der Konferenz fern zu halten.
Ich sollte erläutern, dass ich, als meine geistige Geschicklichkeit zunahm, merkte, dass es nicht nur möglich war, die Ausstrahlungen der Kinder aufzunehmen und meine eigenen Botschaften auszusenden, sondern auch (da ich anscheinend von dieser Radiometapher nicht loskomme) als eine Art nationales Sendernetz zu fungieren. Indem ich meinen transformierten Geist allen Kindern öffnete, konnte ich ihn in eine Art Forum verwandeln, in dem sie durch mich zueinander sprechen konnten. In den ersten Tagen des Jahres 1958 versammelten sich folglich die fünfhunderteinundachtzig Kinder für eine Stunde zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens in der Lok Sabha oder dem Parlament meines Gehirns.
Wir waren so bunt gemischt, wüst und undiszipliniert wie jede andere Gruppe von fünfhunderteinundachtzig Zehnjährigen, und zu unserer natürlichen Überschwänglichkeit kam noch die Aufregung der gegenseitigen Entdeckung hinzu. Nachdem wir eine Stunde lang aus vollem Halse geschrien geplappert gestritten gekichert hatten, fiel ich erschöpft in einen Schlaf, der zu tief für Albträume war, und wachte trotzdem mit Kopfschmerzen auf; aber das war mir gleichgültig. Einmal aufgewacht, war ich gezwungen, dem vielfachen Elend mütterlicher Untreue und väterlichen Verfalls, der Unbeständigkeit von Freundschaft und den diversen Schikanen in der Schule ins Gesicht zu blicken; im Schlaf stand ich im Mittelpunkt der aufregendsten Welt, die je ein Kind entdeckte. Trotz Shiva war es schöner zu schlafen.
Shivas Überzeugung, dass er (oder er-und-ich) kraft seiner (und meiner) Geburt Schlag Mitternacht der einzig mögliche Führer unserer Gruppe sei, hatte viel für sich, das musste ich zugeben. Damals schien mir – und auch heute noch erscheint es mir so –, als sei das Mitternachtswunder tatsächlich von bemerkenswert hierarchischer Natur gewesen, als nähmen die Fähigkeiten der Kinder dramatisch ab, je später nach Mitternacht sie geboren waren, aber selbst diese
Ansicht war heiß umstritten ... «Wiemeinstdudaswiekannstdudassagen? », riefen sie im Chor, der Junge aus dem Wald von Gir, dessen Gesicht vollkommen ausdrucks- und wesenlos war (abgesehen von Augen Nasenlöchern Platzfürdenmund) und das alle Züge annehmen konnte, die er wollte, und Harilal, der so schnell wie der Wind laufen konnte, und Gott weiß wie viele andere ... «Wer sagt eigentlich, das eine sei mehr wert als das andere?» und: «Kannst du fliegen? Ich kann fliegen !» und: «Ja, und ich, kannst du aus einem Fisch fünfzig Fische machen?» und: «Heute habe ich morgen besucht. Kannst du das? Na also ...»
... Angesichts eines solchen Sturmes der Entrüstung schlug sogar Shiva einen anderen Ton an; doch er sollte einen neuen finden, der viel gefährlicher war – gefährlich für die Kinder und für mich.
Ich hatte nämlich herausgefunden, dass ich gegen die Verlockungen der Führerschaft nicht immun war. Wer fand die Kinder überhaupt? Wer ersann die Konferenz? Wer gab ihr ihren Versammlungsort? War ich nicht mit ihm zusammen der Älteste, und sollte man mir nicht den Respekt und den Gehorsam erweisen, der meinem Dienstalter gebührte? Und führte nicht der den Klub, der das Klubhaus zur
Weitere Kostenlose Bücher