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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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sein?»
    Nun, da seine Handfläche mit Schleim beschmiert ist, ist Herr Zagallo plötzlich gar nicht mehr zum Scherzen aufgelegt. «Biest», verflucht er mich, «siehst do, was do getan hast?» Zagallos Hand gibt meine Nase frei, greift in mein Haar. Nasenausfluss wird in meine ordentlich gescheitelten Locken gerieben. Und nun wird mein Haar noch einmal gepackt, noch einmal zieht die Hand ... aber nun nach oben, und mein Kopf ist nachgeruckt, meine Füße erheben sich auf die Zehenspitzen, und Zagallo: «Was bist do? Sag mir, was do bist!»
    «Sir ein Biest Sir!»
    Die Hand packt fester zu, zieht noch mehr nach oben. «Noch einmal.» Nun, auf den Zehennägeln stehend, jaule ich: «Auuu Sir ein Biest ein Biest bitte Sir auuu!»
    Und noch fester und noch mehr nach oben ... «Noch einmal!» Aber plötzlich hört es auf, meine Füße sind wieder flach auf dem Boden, und die Klasse ist in tödliches Schweigen verfallen.
    «Sir», sagt Sonny Ibrahim. «Sie haben ihm die Haare ausgerissen, Sir.» Und nun die Kakophonie: «Sehen Sie, Sir, Blut.» «Er blutet, Sir.»
    «Bitte Sir, soll ich ihn zur Krankenschwester bringen?»
    Wie eine Statue stand Herr Zagallo da, mit einem Büschel meiner Haare in der Faust. Während ich – zu erschrocken, um Schmerz zu empfinden – die Stelle auf meinem Kopf befühlte, wo Herr Zagallo eine Mönchstonsur geschaffen hatte, einen Kreis, in dem nie wieder Haare wachsen sollten, und erkannte, dass der Fluch meiner
Geburt, der mich mit meinem Land verband, sich einmal mehr unerwartet ausgewirkt hatte.
    Zwei Tage später gab Krächzer Crusoe bekannt, dass Herr Emil Zagallo aus persönlichen Gründen leider den Lehrkörper verlasse; ich wusste aber, was die Gründe waren. Meine entwurzelten Haare waren an seiner Hand haften geblieben wie Blutflecke, die sich nicht auswaschen lassen, und niemand will einen Lehrer mit Haaren in der Handfläche. «Das erste Zeichen von Verrücktheit», wie Glandy Keith gern sagte, «und das zweite ist, danach zu gucken! »
    Zagallos Vermächtnis: eine Mönchstonsur und, schlimmer als das, ein kompletter Satz neuer Schmähungen, die meine Klassenkameraden mir entgegenschleuderten, während wir darauf warteten, dass Schulbusse uns nach Hause brachten, damit wir uns für das Fest umziehen konnten: «Rotznase ist ein Kahlkopf!», und: «Schnüffler hat ein Kartengesicht!» Als Cyrus sich in die Schlange einreihte, versuchte ich, die Menge gegen ihn aufzuwiegeln, indem ich probierte anzustimmen: «Cyrus-der-Große, geboren in der Dose, macht sich in die Hose.» Aber niemand griff das Angebot auf.
     
    So kommen wir zu den Ereignissen des Cathedral-Schulfestes. Bei dem Kameradenschinder zu Helfershelfern des Schicksals wurden und Finger sich in Springbrunnen verwandelten und Masha Miovic, die legendäre Brustschwimmerin, in eine totenähnliche Ohnmacht fiel ... Ich hatte immer noch den Verband der Krankenschwester um den Kopf, als ich zum Fest ging. Ich kam zu spät, weil es nicht leicht gewesen war, meine Mutter zu überreden, mich gehen zu lassen. Um die Zeit, als ich unter Papierschlangen und Ballons und den professionell misstrauischen Blicken hagerer Anstandsdamen die Versammlungshalle betrat, tanzten folglich die besten Mädchen bereits Boxstepp und Mexican Hat mit lächerlich adretten Partnern. Natürlich hatten die Aufsichtsschüler die Auswahl bei den Damen; ich beobachtete sie mit glühendem Neid, Guzder und Joshdi und
Stevenson und Rushdie und Talyarkhan und Tayabali und Jussawalla und Waglé und King; ich versuchte, mich ihnen beim Partnerwechsel aufzudrängen, aber wenn sie meinen Verband und meine Gurkennase und die Flecken auf meinem Gesicht sahen, lachten sie bloß und drehten mir den Rücken ... mit aufkeimendem Hass in der Brust aß ich Kartoffelchips und trank Bubble-Up und Vimto und sagte zu mir: «Diese Armleuchter, wenn sie wüssten, wer ich bin, würden sie mir verdammt schnell aus dem Weg gehen!» Aber trotzdem war die Furcht, meine wahre Natur zu enthüllen, größer als mein etwas abstraktes Verlangen nach den herumwirbelnden europäischen Mädchen.
    «He, Saleem, das bist du doch? He, Mann, was ist denn mit dir passiert?» Aus meiner verbitterten, einsamen Träumerei (selbst Sonny hatte jemanden, mit dem er tanzte, aber er hatte schließlich seine Zangendellen, und er trug keine Unterhosen – nicht ohne Grund wirkte er attraktiv) wurde ich von einer Stimme gerissen, die hinter meiner linken Schulter ertönte – einer tiefen, kehligen

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