Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
die (betörende!) Ausdünstung die Nase im Gesicht meines Großvaters nicht – schließlich benutzen die kaschmirischen Bauern ihn, wie oben beschrieben, als eine Art Gips. Selbst in Srinagar waren Straßenhändler mit Karren voll runder Dungfladen kein ungewöhnlicher Anblick. Aber dann war das Zeug nahezu trocken, fast geruchlos und nützlich. Der Dung in Amritsar war frisch und (schlimmer) überflüssig. Auch kam er nicht nur von Rindern. Er stammte aus den Hinterteilen der Pferde zwischen den Deichseln der vielen Tongas, Ikkas und Gharries in der Stadt; und Maultiere und Menschen und Hunde folgten dem Ruf der Natur und vereinigten sich kameradschaftlich in Scheiße. Aber es gab auch Kühe: Heilige Kühe streiften in den staubigen Straßen umher, von denen jede ihr Territorium abschritt und das beanspruchte Gebiet mit Exkrementen absteckte. Und Fliegen, Volksfeind Nummer eins! Sie schwirrten fröhlich von Haufen zu dampfendem Haufen, feierten und befruchteten diese freigebig dargebrachten Gaben. Auch die Stadt schwärmte umher, spiegelte die Bewegung der Fliegen. Doktor
Aziz sah von seinem Hotelfenster auf diese Szene hinab, als ein Dschaina in einer Gesichtsmaske vorbeiging, der den Boden vor sich mit einem Reisigzweig fegte, damit er nicht auf eine Ameise oder selbst eine Fliege trat. Würzige süße Gerüche stiegen von einem Karren mit Imbissen auf. «Heiße Pakoras, heiße Pakoras!» In einem Geschäft auf der anderen Straßenseite kaufte eine weiße Frau Seide, und Männer in Turbanen beäugten sie. Naseem – nun Naseem Aziz – hatte stechende Kopfschmerzen; es war das erste Mal, dass sie eine Krankheit wiederholte, aber das Leben außerhalb ihres ruhigen Tals hatte sie wie ein Schock getroffen. Neben ihrem Bett stand ein Krug mit frischem Limonenwasser, der sich rasch leerte. Aziz stand am Fenster und atmete die Stadt ein. Der Turm des Goldenen Tempels glitzerte in der Sonne. Aber seine Nase juckte: Etwas stimmte hier nicht.
Nahaufnahme der rechten Hand meines Großvaters: Nägel, Knöchel, Finger, alle etwas größer, als man erwartet hätte. Büschel von rotem Haar an den Handkanten. Daumen und Zeigefinger zusammengedrückt, nur durch die Dicke eines Papiers getrennt. Kurzum: Mein Großvater hielt ein Flugblatt. Es war ihm in die Hand gedrückt worden (Schnitt auf eine Totale – jeder, der aus Bombay stammt, sollte über ein grundlegendes Filmvokabular verfügen), als er die Hotelhalle betrat. Trippeln eines Straßenjungen durch die Drehtür, Fallen von Flugblättern in seinem Kielwasser, als der Laufbursche ihm nachsetzt. Irre Drehungen der Tür, rundundrundundrund, bis auch die Hand des Laufburschen nach einer Nahaufnahme verlangt, weil sie Daumen und Zeigefinger zusammendrückt, nur durch die Dicke des Straßenjungenohrs getrennt. Rausschmiss des jugendlichen Verteilers von Gossentraktaten; aber trotzdem behielt mein Großvater die Botschaft. Als er jetzt aus seinem Fenster blickt, sieht er sie auf der gegenüberliegenden Wand wiederholt und dort auf dem Minarett einer Moschee und in der großen schwarzen Druckschrift einer Zeitung unter dem Arm eines fliegenden Händlers. Flugblatt Zeitung Moschee Wand schreien: Hartal! Dem wortwörtlichen Sinne nach ein Tag des Trauerns, der Stille, des Schweigens. Aber das ist Indien zur Hochzeit des Mahatma, in der sogar die Sprache den Unterweisungen des Gandhiji gehorcht und das Wort unter seinem Einfluss einen neuen Beiklang bekommen hat. Hartal – 7. April, stimmen Moschee Zeitung Wand Flugblatt überein, denn Gandhi hat verfügt, dass an diesem Tag ganz Indien zum Stillstand kommen soll. Um friedlich die fortdauernde Anwesenheit der Briten zu betrauern.
«Ich verstehe diesen Hartal nicht, wo doch keiner tot ist», weint Naseem leise. «Warum will der Zug nicht fahren? Wie lange sitzen wir hier fest?»
Doktor Aziz bemerkt einen soldatisch wirkenden jungen Mann auf der Straße und denkt – die Inder haben für die Briten gekämpft, so viele von ihnen haben mittlerweile die Welt gesehen und sind vom Ausland infiziert worden. Sie werden nicht leicht zur alten Welt zurückkehren. Die Briten befinden sich im Irrtum, wenn sie versuchen, die Uhr zurückzudrehen. «Es war ein Fehler, diese Rowlatt-Gesetze zu erlassen», murmelt er.
«Was für ein Rowlatt?», jammert Naseem. «Wenn du mich fragst: Das ist alles Quatsch.»
«Gegen politische Agitation», erklärt Aziz und kehrt zu seinen Gedanken zurück. Tai hatte einmal gesagt: «Kaschmiris sind anders.
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