Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Feiglinge, zum Beispiel. Drück einem Kaschmiri ein Gewehr in die Hand, und es muss von selber losgehen – er wird nie wagen abzudrücken. Wir sind nicht wie die Inder, die andauernd Schlachten veranstalten.» Aziz, der Tai im Kopf hat, fühlt sich nicht als Inder. Kaschmir ist schließlich im strengen Sinne nicht Teil des Empires, sondern ein unabhängiges Fürstentum. Er ist sich nicht sicher, ob der Hartal von Flugblatt Moschee Wand Zeitung sein Kampf ist, obwohl er sich doch nun in besetztem Gebiet befindet. Er dreht sich vom Fenster weg ...
... und sieht Naseem ins Kissen weinen. Sie weint, seitdem er sie in ihrer zweiten Nacht bat, sich ein wenig zu bewegen. «Mich
wo bewegen?», fragte sie. «Mich wie bewegen?» Er wurde verlegen und sagte: «Nur bewegen, ich meine, wie eine Frau ...» Sie schrie vor Entsetzen auf. «Mein Gott, was habe ich geheiratet? Ich kenne euch Europaheimkehrer. Da lernt ihr schreckliche Frauen kennen, und dann versucht ihr uns Mädchen so wie sie zu machen. Hör zu, Doktor Sahib, Ehemann oder nicht Ehemann, ich bin nicht ... so eine, die man mit einem unanständigen Wort bezeichnet.» Das war eine Schlacht, die mein Großvater nie gewann, und sie legte den Ton für ihre Ehe fest, die bald regelmäßig zu einem verheerenden Kriegsschauplatz wurde, auf dem Verwüstungen stattfanden, die das junge Mädchen hinter dem Laken und den linkischen jungen Doktor geschwind in andere, fremdere Wesen verwandelten ... «Was nun, Frau?», fragt Aziz. Naseem vergräbt ihr Gesicht im Kissen.«Was sonst?», sagt sie in dumpfem Ton. «Du, oder was? Du willst, dass ich mich vor fremden Männern nackt zeige.» (Er hat ihr gesagt, sie solle den Purdah aufgeben.)
Er sagt: «Dein Hemd bedeckt dich vom Hals bis zu den Handgelenken und Knien. Deine weiten Pajamas verbergen dich bis über die Fußknöchel. Bleiben uns nur noch dein Gesicht und deine Füße. Frau, sind dein Gesicht und deine Füße obszön?» Aber sie jammert: «Sie sehen mehr als das. Sie sehen meine tiefe, tiefe Schmach!»
Und jetzt ein Unglück, das uns in die Welt des Jods katapultiert ... Aziz, der spürt, wie er die Beherrschung verliert, zerrt alle Purdahschleier seiner Frau aus ihrem Koffer, schleudert sie in einen Papierkorb aus Blech mit einem Bild von Guru Nanak und zündet sie an. Zu seiner Überraschung schießen Flammen hoch, züngeln an den Vorhängen. Aadam stürzt zur Tür und schreit um Hilfe, während die Vorhänge lichterloh zu brennen beginnen ... und Träger Gäste Waschfrauen strömen ins Zimmer und schlagen mit Staubtüchern Handtüchern Wäsche anderer Leute auf den brennenden Stoff ein. Eimer werden gebracht, das Feuer geht aus, und Naseem kauert auf dem Bett, während ungefähr fünfunddreißig Sikhs, Hindus und Unberührbare sich in dem raucherfüllten Zimmer
drängen. Schließlich gehen sie, und Naseem lässt zwei Sätze los, ehe sie ihre Lippen eigensinnig zusammenpresst.
«Du bist ein Verrückter. Ich will mehr Limonenwasser.»
Mein Großvater öffnet das Fenster, dreht sich zu seiner Braut um. «Es wird eine Weile dauern, bis der Rauch abgezogen ist; ich mache einen Spaziergang. Kommst du mit?»
Lippen zusammengepresst, Augen zusammengekniffen, ein einziges heftiges Nein mit dem Kopf, und mein Großvater geht allein hinaus auf die Straße. Zum Abschied ruft er: «Hör auf, ein gutes kaschmirisches Mädchen zu sein. Fang an, darüber nachzudenken, wie du eine moderne indische Frau wirst.»
... Während im Hauptquartier der britischen Armee ein gewisser Brigadegeneral R. E. Dyer seinen Schnurrbart wachst.
Es ist der 7. April 1919, und in Amritsar wird das großartige Vorhaben des Mahatmas fehlgeleitet. Der Bahnhof ist geschlossen, die Läden sind verrammelt, aber nun bricht aufrührerischer Pöbel sie auf. Doktor Aziz, mit seiner Ledertasche in der Hand, läuft durch die Straßen und leistet Hilfe, wo immer es möglich ist. Niedergetrampelte Körper sind dort, wo sie hinfielen, liegen gelassen worden. Er verbindet Wunden, bestreicht sie großzügig mit Jod. Dadurch sehen sie blutiger als vorher aus, sind aber wenigstens desinfiziert. Schließlich kehrt er ins Hotelzimmer zurück, seine Kleider von roten Flecken getränkt, und Naseem gerät in Panik. «Lass mich helfen, lass mich helfen! Allah, was für einen Mann habe ich geheiratet, der in die Gosse geht und sich mit Vagabunden prügelt!» Überall betupft sie ihn mit wassergetränkten Wattebäuschen. «Ich versteh’s nicht, warum kannst du nicht
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