Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
ein respektabler Arzt sein wie gewöhnliche Leute, die bloß wichtige Krankheiten und so etwas kurieren? O Gott, du bist ja voller Blut. Setz dich, setz dich hin jetzt, lass mich dich wenigstens waschen!»
«Das ist kein Blut, Frau.»
«Denkst du, ich kann nicht sehen, was los ist? Warum musst du
mich zum Narren halten, selbst wenn du verletzt bist? Darf sich nicht einmal deine eigene Frau um dich kümmern?»
«Es ist Jod, Naseem. Rote Medizin.»
Naseem – die, Kleidungsstücke herunterziehend, Wasserhähne aufdrehend, ein Wirbelwind von Aktivität geworden ist – erstarrt. «Das tust du absichtlich», sagt sie, «damit ich dumm dastehe. Ich bin nicht dumm. Ich habe mehrere Bücher gelesen.»
Es ist der 13. April, und sie sind immer noch in Amritsar. «Diese Angelegenheit ist noch nicht beendet», sagte Aadam Aziz zu Naseem.«Wir können nicht abreisen, weißt du: Sie brauchen vielleicht noch einmal Ärzte.»
«Also müssen wir hier sitzen und bis zum Jüngsten Tag warten?» Er rieb sich die Nase. «Nein, so lange nicht, befürchte ich.»
An jenem Nachmittag sind die Straßen plötzlich voller Menschen, die sich Dyers neuen Kriegsrechtsbestimmungen zum Trotz alle in dieselbe Richtung bewegen. Aadam sagt zu Naseem: «Es muss eine Versammlung geplant sein – da wird das Militär Ärger machen. Versammlungen sind veboten.»
«Warum musst du gehen? Warum wartest du nicht, bis du gerufen wirst?»
... Ein umgrenztes Grundstück kann alles sein, von einer Ödlandfläche bis zu einem Park. Das größte umgrenzte Grundstück in Amritsar heißt Jallianwala Bagh. Dort wächst kein Gras. Überall liegen Steine, Dosen, Glas. Um dort hinzukommen, muss man durch eine sehr enge Gasse zwischen zwei Gebäuden gehen. Am 13. April drängeln sich viele tausend Inder durch diese enge Gasse. «Es ist ein friedlicher Protest», sagt jemand zu Doktor Aziz. Von den Massen mit fortgerissen, kommt er am Ende der Gasse an. In seiner rechten Hand befindet sich eine Tasche aus Heidelberg. (Eine Nahaufnahme ist nicht nötig.)
Er hat, das weiß ich, große Angst, denn seine Nase juckt schlimmer als je zuvor; aber er ist ausgebildeter Arzt, er verdrängt es aus
seinen Gedanken, er betritt das Areal. Jemand hält eine leidenschaftliche Rede. Straßenhändler ziehen durch die Menge und verkaufen Channa und Süßigkeiten. Die Luft ist erfüllt von Staub. So weit mein Großvater sehen kann, scheint es keine Goondas, keine Unruhestifter, zu geben. Ein kleiner Trupp Sikhs hat ein Tuch auf dem Boden ausgebreitet und isst, im Kreis um das Tuch gruppiert. Immer noch liegt ein Geruch nach Kot in der Luft. Aziz dringt ins Innere der Menge vor, als Brigadegeneral R. E. Dyer mit fünfzig berittenen Elitesoldaten am Zugang zur Gasse eintrifft. Er ist der Militärkommandant von Amritsar – immerhin ein wichtiger Mann; die gewachsten Spitzen seines Schnurrbarts sind vor Wichtigkeit ganz starr. Als die einundfünfzig Männer die Gasse hinuntermarschieren, hört das Jucken in der Nase meines Großvaters auf; nun kitzelt es ihn in der Nase. Die einundfünfzig Männer betreten das Gelände und gehen in Stellung, fünfundzwanzig zur Rechten Dyers und fünfundzwanzig zu seiner Linken; und Aadam Aziz hört auf, sich auf die Geschehnisse um ihn herum zu konzentrieren, da das Kitzeln sich zu einer unerträglichen Intensität steigert. Als Brigadegeneral Dyer einen Befehl erteilt, versetzt der Nieser meinem Großvater einen Stoß ins Gesicht. «Haaa-tschüi!», niest er und kippt nach vorn, verliert das Gleichgewicht, folgt seiner Nase und rettet dadurch sein Leben. Sein Doktori-Koffer springt auf; Flaschen, Einreibemittel und Spritzen liegen im Sand verstreut. Fieberhaft sucht er zwischen den Füßen der Leute herum und versucht, seine Ausrüstung zu retten, bevor sie zertreten wird. Ein Geräusch wie von klappernden Zähnen im Winter kommt auf, und jemand fällt über ihn. Etwas Rotes befleckt sein Hemd. Jetzt sind Schreie und Schluchzer zu hören, und das seltsame Klappern hält an. Immer mehr Leute scheinen gestolpert und auf meinen Großvater gefallen zu sein. Er beginnt, sich Sorgen um seinen Rücken zu machen. Das Schloss seiner Tasche gräbt sich ihm in die Brust und bringt ihm eine so schwere und mysteriöse Quetschung bei, dass das Mal erst nach seinem Tod, Jahre später, auf dem Hügel Sankara Acharya
oder Takht-e-Sulaiman, verblassen wird. Seine Nase wird gegen eine Flasche mit roten Pillen gedrückt. Das Klappern hört auf, und die
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